Leica auf Plattenteller

Musik kann man sehen. Die Leica auf dem Plattenteller. Ein Beitrag zur Synästhesie

Ich liebe meine Leica. Und ich liebe meinen Plattenspieler. Und mit bloßer Vernunft ist beidem nicht beizukommen. Denn sowohl beim Sehen, als auch beim Hören kommt die Vernunft an ihre Grenzen. Und meine Freunde sagen: für gute Fotos braucht es keine Leica. Und gute Musik kann auch von der Festplatte kommen. Und wenn ich umständlich die Aufnahmeentfernung an meiner Leica M einstelle, weil es da keinen Autofocus gibt, halten sie mich für ein wenig meschugge. Und wenn ich ebenso umständlich eine Schallplatte aus dem Regal ziehe und alle paar Monate einen meiner Tonarme neu einstelle ebenfalls. Und wenn ich jetzt auch noch behaupte, dass ich Musik sehen kann – und zwar in Farbe – dann fürchten sie endgültig um meinen Verstand. Dabei hat das Sehen von Musik sogar einen wissenschaftlichen Namen: Synästhesie!

Was ist Synästhesie?

Synästhesie ist die Verschränkung unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen, also zum Beispiel von Sehen und Hören, oder von Raum und Geschmack. Dabei interagieren verschiedene Areale im Gehirn miteinander. Dabei löst eine Sinneswahrnehmung eine weitere Wahrnehmung aus. Man sieht „Blau“ und meint einen bestimmten Ton zu hören – und umgekehrt. Man schmeckt „salzig“ und denkt „rechts unten“. Verrückt? Nicht für Synästheten. Tatsächlich empfinden nicht alle Menschen synästhetisch. Und die Fähigkeit zur Synästhetik kann man im Laufe des Lebens erwerben und wieder verlieren. Weil man sich seiner Synästhetik bewusst sein muss.

Darüber, wie viele Menschen solche Sinneswahrnehmungen erleben, ist man sich überhaupt nicht einig. Die Schätzungen variieren zwischen einem Prozent und einem deutlich zweistelligen Anteil der Menschheit. Die meisten Experten gehen von rund vier Prozent aus. Der Anteil variiert auch zwischen verschiedenen Kulturen stark. Und viele Menschen sind sich ihrer Fähigkeit nicht bewusst. Aber dieses Bewusstsein kann man entwickeln. Viele Betroffene verdrängen synästhetische Wahrnehmungen auch, weil sie sie auf Grund gesellschaftlicher Sanktionierung als Bewusstseinsstörung erleben. „Du spinnst ja“ haben einfach schon zu viele sich anhören müssen, die Musik sehen und Bilder riechen können. Nehmen sie sie aber als angenehm wahr, so verdrängen sie sie nicht mehr, sondern erleben sie intensiv. Was spricht schon dagegen, eine Bach’sche Fuge als blau wahrzunehmen?

Wenn der Kammerton rot wird

Musik zu sehen, gilt als die häufigste Art der Synästhesie. Ein bekannter Synästhetiker ist der deutsche Flötist Henrik Wiese. Für ihn ist der Ton a zum Beispiel rot, d ist dunkelblau, g ist hellblau. Gegenüber BR Klassik hat er einmal verraten: „Es fühlt sich an, als wenn ich in einer Kugel stehe und warmes, farbiges Licht von allen Seiten kommt. An diesen Farben erkenne ich die Töne“. 

Wie kann das sein? Der Hirnforscher Hinderk Emrich hat herausgefunden, dass sich da zwei Hirnareale miteinander kurzschließen, das Hörzentrum und das Sehzentrum. Zwischen beiden findet ein Austausch statt. Im Kernspintomographen kann man das erkennen. Es handelt sich also nicht um eine Einbildung, sondern um nachweisbare Reize.

Von Farbtönen und Klangfarben in der Synästhesie

Vermutlich spielte die Synästhesie auch in der Entwicklung der Kompositionstechnik eine wesentliche Rolle. Anton Webern berief sich bei seiner Fortentwicklung der Zwölftonmusik explizit auf Goethes Farbenlehre. Er nahm den Begriff der Klangfarbe bei seinen chromatischen Färbungen der Tonreihen in den seriellen Kompositionen durchaus wörtlich und variierte Töne wie Farben. Aber auch Franz Liszt, Jean Sibelius, Nikolai Rimsky-Korsakov und Leonard Bernstein gelten als Synästhetiker. Einige aktuelle Musiker*innen bekennen sich ebenfalls zur Synästhesie, zum Beispiel Lady Gaga, Tori Amos, Billy Joel, die von mir sehr geschätzte Hélène Grimaud und Chris Martin von „Coldplay“. Unter den Malern konnten wohl Wassily Kandinsky und Vincent van Gogh Farben hören. Bei van Gogh dürfte es ziemlich laut zugegangen sein.

Alles so schön bunt hier: die Farbmusik. Zwischen Clarina und Farbenkreis

Es gab viele Versuche einer logischen Begründung einer Farbmusik. Sie beruhen fast immer auf einer Überdeckung von Farbkreis – wofür zumeist der alte Goethe herhalten muss – und der europäischen Harmonik. Ich zitiere hier beispielhaft die Farb-Ton-Zuordnung nach Fritz Dobretzberger:

 

Quelle: Planetware

Nach diesem System ist der Kammerton a gelborange. Manchmal wird es dann auch ein wenig esoterisch. Dann werden die Schwingungen von Farben und Tönen mit Wachstumszyklen in der Natur, Erdrotation und Planetenbewegungen in Relation gesetzt. Farbmusik wird häufig auch im Rahmen alternativer Therapien eingesetzt.

Derartige farbmusikalische Ordnungssysteme sind keine Erfindung der Neuzeit. Schon Aristoteles hatte ein Farb-Ton-System entwickelt. Er glich das vierstellige Farbsystem Weiß-Schwarz-Rot-Ockergelb dem damals gültigen siebenstelligen Tonsystem an und erweiterte es um die Farben Purpur, Grün und Blau. Und Isaac Newton analysierte die sieben Prismenfarben Rot – Orange – Gelb – Grün – Blau – Indigo – Violett und setzte sie in Bezug zu den sieben Grundtönen der europäischen Tonleiter.

Farbmusiken gibt es viele. Sie wurden häufig von Synästhetikern entwickelt. Aber die synästhetische Wahrnehmung können sie nicht erklären. Fragt man Synästhetiker, hat der Kammerton sowieso bei jeder und jedem eine andere Farbe. Obwohl sich alle mit der gleichen Umlaufzeit um die Sonne bewegen.

Farbmusik ist keine Begründung für Synästhesie

Farb- und Tonsysteme beruhen jeweils auf Wellen, aber doch auf sehr unterschiedlichen Wellen. Die Welt der Töne ist erheblich reicher, als die Welt der Farben. Das sichtbare Licht umfasst gerade einmal einen Frequenzbereich zwischen 400 und 800 Nanometer, also zwischen etwa 370 und ca. 750 Billionen Hertz. Auf Töne übertragen wäre das gerade mal eine Oktave. Das menschliche Hörvermögen umfasst rund zehn Oktaven – bei jungen Erwachsenen. Im Alter nimmt die Spanne merklich ab. Ich weiß, von was ich rede. Leider.

Ein weiterer Unterschied: Der Frequenzverlauf der Töne ist streng logarithmisch. Der Frequenzverlauf der Farben aber ist völlig chaotisch. Der rote Farbbereich ist überragend breit, der Frequenzverlauf von Gelb und Orange sehr schmal. Das hat Konsequenzen: Ein Musikstück kann man jederzeit in eine andere Tonart versetzen. Man kann ein Lied auch einfach eine Oktave höher spielen. Man wird es wiedererkennen. Malt man ein Bild aber ein paar Frequenzen „höher“, so wird es völlig zerstört.

Ein „Obertonspektrum“ in der Malerei wird niemals als harmonisch empfunden werden. Es gibt in der Malerei einfach kein Gegenstück zur Harmonie der Musik. Die Synästhesie wird also stets ihre Regeln in der Rezeption finden müssen, nicht im Material. Farbmusik und Synästhesie sind zwei völlig verschiedene Dinge. Das eine kommt aus der Produktion, das andere aus der Rezeption.

Vinyl

Leica, Schallplatten und die Synästhesie

Und was hat das alles jetzt mit Leica und Musik zu tun? Leica und Schallplatten sind hochemotionale Dinge. Und sie sind Wunderwerke der Feinmechanik. Und sie verbinden Sehen und Hören. Ach ja: Und man muss überhaupt kein Synästhetiker sein, um eine Leica M am Klang ihres mechanischen Verschlusses zu erkennen und sich an der Optik eines schönen Schallplatten-Covers zu erfreuen. Wirklich nicht. Synästhetiker haben aber ganz sicher doppelten Spaß an beidem. Ich denke es ist kein Zufall, dass sich vor einigen Wochen der High-End-Spezialist ATR und Leica zusammengefunden haben und eine erste gemeinsame Veranstaltung organisiert haben. Passt irgendwie.

Illustrationen © Michael Kausch

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2 Antworten

  1. Eine Frage noch, wie hört man Schwarz-Weiß-Fotografie? Gibt es dafür auch Synästheten? Und das wäre dann auch die einzige Leica, die ich wirklich mal gerne ausprobieren würde, die 10 Monochrom. Mit oder ohne Musik, dabei: sieht der Synästhet eigentlich den Unterschied, von welchem Tonarm die Musik kommt oder von welcher Festplatte? A propos, gilt das Kofferradio in der Dunkelkammer auch – Rotlicht-Hören sozusagen 😉 Ich persönlich sehe ja Jpg von Spotify und höre Bilder mit Olympus oder habe ich jetzt was durcheinander synästhetisiert…?

  2. Farben und Töne sind sehr merkwürdige Dinge. Woher kommen diese Farben und diese ganzen Töne? Ich weiß es nicht, vielleicht war am Anfang der Ton, der eine Schwingung auslöste. Daraus könnten viele neue Töne entstanden sein – und auch die Farben. Musik bezieht sich übrigens auf die 9 olympischen Musen, ebenso das Wort Museum: „Es gibt einige Heiligtümer, die den neun olympischen Musen gewidmet sind. Diese Heiligtümer werden Museion (altgriechisch μουσεῖον mouseîon = deutsch -> Heiligtum der Musen / Musenheiligtum) bezeichnet. Das Wort Museum leitet sich von Museion ab. Heute kennt man das Wort Musik. Musik wird von Muse abgeleitet (von altgriechisch μουσικὴ τέχνη mousikḕ téchnÄ“, der „Kunst der Musen“).“ -> https://www.mythologie-antike.com/t118-musen-die-neun-olympischen-musen-sind-die-schutzgottinnen-der-kunste

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