Inniger Schiffbruch

Frank Witzels Inniger Schiffbruch riecht nach Fichtennadeln. Eine Buchbesprechung.

Frank Witzel ist Kult. Spätestens seit seinem Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ muss man ihn lesen. Sagt man. Und schreiben die Feuilleton-Gurus. Finde ich nicht. Robert-Gernhardt-Preis, Deutscher Buchpreis, Spiegel-Bestseller. Ach nein, Die Erfindung der RAF gehört zu jenen seltenen Büchern, an denen ich gründlich gescheitert bin.

Dabei ist das ja „meine Zeit“, die Siebziger. Ich werde ihn nicht vergessen, diesen Mitarbeiter der Stadtverwaltung Ansbach, der mich seinerzeit angiftete mit der Bemerkung „Ist mir doch gleich, ob Sie die Bundeswehr verweigern oder gleich zu Bader-Meinhof gehen …“. Und den Beisitzer im Ausschuss für die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, der mich interessiert frug, ob ich als Kind heimatvertriebener Sudendeutscher mich denn nicht für die Rückeroberung der Heimat meiner Vorfahren einsetzen wolle. Die siebziger Jahre, diese unmittelbare Nachkriegszeit der Ewiggestrigen in der fränkischen Provinz.

Frank Witzel ist der Chronist meiner Jugend. Aber sein 2015 erschienenes RAF-Buch hab ich nicht gerafft. Das Buch, „ein Tsunami“, wie Bettina Schulte von der Buchpreis-Jury einst rühmte, erschien mir als lauwarmes Darmlüftchen. Das konnte es nicht sein. Der vielgerühmte Witzel hatte eine zweite Chance verdient. Ich habe mir also ein zweites Witzel-Buch vorgenommen. Ein Buch, das mich dieses Mal nicht in meine Jugend, sondern gleich in meine Kindheit zurückbeamen sollte:  

Frank Witzel: Inniger Schiffbruch

In „Inniger Schiffbruch“ beschäftigt sich Frank Witzel mit dem Nachlass seines Vaters. Also eigentlich beschäftigt er sich mit seiner Kindheit. Es ist ein autobiografisches Buch. Und dieses Mal gelingt ihm die fürsorgliche Entführung des Lesers Michael Kausch in die Kindheit der sechziger Jahre perfekt. Das Buch hat mich geflasht. Mitten in die Badewanne meiner Kindheit, die so berauschend nach Fichtennadeln roch. 

„In einer anderen Erinnerung kommt meine Mutter in den Garten gelaufen, weil ich mich erbrochen habe, und steckt mir eine der großen grünen Brausetabletten in den Mund, die überlicherweise samstags beim Baden in der Wanne aufgelöst wurden und nach Fichtennadeln rochen.“

Diese dunkeltanngrünen Fichtennadelbrausebadepillen kenne ich. Und ich liebte sie wie die „Reisnestchen mit Gulasch“ und den „Beat-Club“, der später zum Samstag gehörte wie das Fichtennadelaroma. 

Apropo Beat-Club: Natürlich spielt auch „Radio Luxemburg“ in Witzels Erinnerungen eine tragende Rolle. Was er unterschlägt – oder hat er’s vergessen? Wie kann er nur? – ist die „grüne RTL-Taste mit der damals manche Rundfunkempfänger ausgestattet waren. Mit dieser Taste konnte man den Sender direkt abrufen, eine vorprogrammierte Festspeichertaste. Man ersparte sich den Sendersuchlauf wenn man mal nicht AFN hören wollte.   

Grüne RTL Taste

Adorno, Benjamin und der Nilpferdkönig Archibald

Frank Witzel ist aber nicht nur ein zuverlässiger Chronist der 60iger Jahre, sondern auch ein belesener kritischer Geist, der sich durch die Suhrkamp-Bände der Frankfurter Schule gearbeitet hat. 

So verknüpft er tolldreist seine Deutung frühkindlicher Träume mit der Leseerfahrung der kritischen Altvorderen und verweist für die Verarbeitung seiner Traumbilder auf die bekannten Marotten Adornos, der sich in seinen Briefen schon mal als „Nilpferdkönig Archibald“ bezeichnete und die Beschreibung seiner Frau Gretel als „königliche Gemahlin Giraffe Gazelle“ wohl für eine Liebkosung hielt. So zitiert er TWA „Ich bin ganz klein in meinem Schuldbewußtsein und krieche um dich herum und schnuppere in der Hoffnung von Deinen unbeschreiblich großen Nüstern wieder beschnuppert zu werden.“ Und Witzel witzelt: „Handelt es sich hier um einen anderen Jargon der Eigentlichkeit? Oder wie Adorno selbst sagen würde: `Den Rückfall der auferstandenen Metaphysik hinter die Dialektik verbucht der Jargon als Weg zu den Müttern.´“

Nun ja. Frank Witzel hatte sichtlich Spaß beim Verfassen des Innigen Schiffbruchs. Und der Autor nutzt seine Textkenntnisse Adornos denn auch dazu ein wenig über den Tierbestand des Frankfurter Zoos in seinen Kindheitstagen und über die Funktion von Kosenamen zu reflektieren. Ein intellektueller Spaß allemal.

(Des-)Orientierung bei der Rückkehr ins Elternhaus

Sehr eindrucksvoll beschreibt Frank Wetzel die Desorientierung bei der Rückkehr ins Elternhaus nach dem Tod der Eltern. Ich selbst habe diese Erfahrung vor einigen jahren nach dem Tod meines Vaters gemacht und kann die Erlebnisse Witzels gut nachvollziehen. Unter Bezugnahme auf Walter Benjamin schreibt der Autor:

„Walter Benjamin schreibt, dass es nicht viel heißt, sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, es aber Schulung braucht, sich in ihr zu verirren, `wie man in einem Wald sich verirrt´. An anderer Stelle bemerkt er unter der Überschrift Verstecktes Kind: Ès kennt in der Wohnung schon alle Verstecke und kehrt darein wie in ein Haus zurück, wo man sicher ist, alles beim alten zu finden.´Wenn dieses Kind zurückkehrt, dann war es zuvor woanders, wo es eben genau das suchte, was ihm nicht vertraut ist, um anschließend in das ihm Bekannte zurückkehren zu können: das alte Spiel von Fort und Da. Um diese Möglichkeit des Spiels über die Kindheit hinaus zu erhalten, müssen wir, wenn uns alles bekannt geworden zu sein scheint, selbst unbekannt werden und uns in dem zu verirren lernen, was wohlgeordnet und strukturiert ist, wie eben eine Stadt mit ihren Straßenschildern, die nur dann nicht länger den Weg weisen, wenn sie zu uns sprechen `wie das Knacken trckner Reiser´.“

Kann man den Innigen Schiffbruch lesen ohne unterzugehen?

Wer den Innigen Schiffbruch liest in der Erwartung daraus zu lernen, etwa wie man sich dem Erbe seiner Kindheit nähern kann, der muss notwendig Schiffbruch erleiden. Wer sich aber auf das Treiben auf den Wellen der Erinnerungen einlässt, der wird eine wilde Reise erleben. Eine Reise durch pathologische Albträume, grausame Untiefen der Seele, heitere und überraschende Strömungen. Der wird die Sirenen Anthemusas vernehmen, wohl versinken und durch irgendein raumzeitliches Wurmloch wieder emporsteigen. Der wird in die Fremde seines Elternhauses eindringen als Räuber. Eigentlich ist man nach der Lektüre dieses Buches reif für die Couch. Spätestens dann. Die Lektüre lohnt sich also allemal.

Und – kleiner Tipp – wer den Innigen Schiffbruch halbwegs heil überstanden hat, der kann ja im Anschlus Marquez lesen: Bericht eines Schiffbrüchigen.

Illustrationen © Michael Kausch

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