Tenenbom

Der Raum spricht jiddish. Tuvia Tenenbom frisst sich durch Mea Shearim.

Tuvia Tenenbom ist ein Tannebaum inmitten eines Eichenwäldchens. Jedenfalls ein liebevoller Störenfried. Ein Jude unter Antizionisten mitten in Jerusalem. Sohn eines Rabbi, Enkel eines chassidischen Oberrabbi, ultraorthodox aufgewachsen fiel der Apfel weit vom Stamm. Er hat Mathematik und Computerwissenschaften studiert, in New York Theater gespielt, für die Zeit die beachtenswerte Kolumne Fett wie ein Turnschuh verfasst und in Hamburg Neonazis, Gregor Gysi und den Bayerischen Innenminister interviewt. Nun hat er sich, der liberale Weltbürger, ein Jahr lang im ultraorthodoxen Jerusalemer Stadtteil Mea Shearim unter Chassiden und Litwaken gemischt. Und nicht als Voyeur, sondern als liebevoll teilnehmender Beobachter und als leidenschaftlich verfressener Liebhaber der jüdisch-orientalischen Küche, nie einer Kugl und ein paar Kichlach abgeneigt.

Dabei geht er schonungslos offen mit den Köchinnen und Mitessern um. Er berichtet von den Gerüchten über verbreiteten sexuellen Missbrauch und auch davon, dass es sehr wohl sexuelle Abhängigkeiten an einigen „Höfen“, also in den mehr oder weniger streng organisierten ultraorthodoxen Gruppen, geben mag. In einigen scheinen doch arg katholische Zustände zu herrschen. Er berichtet von starken Frauen und von großer Frauenverachtung, von großer Kunst und von großer Kunstverachtung, vom Aberglauben und vom allgemeinen Irrsinn und von großartigem intellektuellem Geist in den jüdischen Zirkeln. Es ist halt alles wie überall, nur intensiver, krasser, ausgeprägter, inzestuöser in Mea Shearim. Sogar der Antizionismus und die Israelfeindlichkeit ist dort ausgeprägter, als im Rest der Welt.

Mea Shearim ist für die meisten von uns eine No-Go-Area

Meine Tochter lebte einige Zeit in Israel und ich wagte während meines Aufenthalts in Jerusalem nicht Mea Shearim zu besuchen. Mit meinem bisschen Jiddisch wäre ich wohl auch nicht weit gekommen. Man muss die Mameloschn schon als Kind eingesogen haben, um sich dort bewegen zu können und als Nicht-Orthodoxer so einigermaßen akzeptiert zu werden. Tenenbom spricht natürlich fließend Jiddisch, vielleicht nicht wie Gott, aber doch fast. Und nicht nur das: er kennt die Feinheiten der Orthodoxie aus seiner Kindheit und Jugend. So kann er uns einen Einblick geben in eine Welt, die uns und den allermeisten Israelis für immer verschlossen bleiben wird.

israel 02

Mea Shearim ist eine Reise in die Stetl unserer Vergangenheit


Seine Reise durch den Alltag und durch die jüdischen Feiertage in Mea Shearim ist immer auch eine Reise in die osteuropäischen Schtetl, also in eine Welt, die die Gojim auf ewig vernichtet haben. Es ist eine Reise in eine Kultur, die einst auch Teil der deutschen Kultur war. Wer es ernst meint mit der Floskel, dass das Jüdische ein Teil der deutschen Kulturgeschichte ist, der sollte das Buch „Gott spricht jüdisch“ unbedingt lesen. Es geht hier nicht um Israel. Es geht auch nicht um Gaza, nicht um Zionismus, nicht um Palästina. Nein, es geht um Deutschland, um Polen, um das, was einmal Teil der mitteleuropäischen Kultur war.

Jüdischer Witz und jüdischer Geist

Tenenbom hat ein schonungslos humorvolles Buch geschrieben. Und ein entschieden lehrreiches Buch. Habt Ihr schon einmal von Schechina gehört? Nein? Schechina ist die „Einwohnung Gottes“ liest man in der Wikipedia. Was natürlich bestenfalls die halbe Wahrheit ist. In der Kabbala – eine Sammlung mystischer Schriften des Judentums – ich habe mich während meines Studiums in schwärmerischen Jahren intensiver damit befasst – wird Schechina eher als das Weib Gottes interpretiert, oder gar als „Göttin“ an der Seite des großen Stuhls. Wobei natürlich nicht von „Gott“ die Rede ist, sondern vom Namen oder vom Raum, also von etwas unbestimmbarem.

Natürlich erfährt man in diesem Buch auch viel über Alltagsregeln orthodoxer Juden, über Sexualität – viele Orthodoxe dürfen sie nur in bekleidetem Zustand „ausüben“ -, über das Anschauen von verheirateten Frauen – selbst in bekleidetem Zustand eine Sünde, über Verhaltensregeln am Schabbes und so weiter und so mehr. Aber dass es in Jerusalem orthodoxe Aufzüge gibt, die am Schabbes auf jeder Etage halten, damit man als strenggläubiger Jude am Sabbat keinen Knopf drücken muss, weil das Betätigen einer Maschine Arbeit darstellt und Arbeit am Tag des Herrn, gepreisen sei er, nicht erlaubt ist, das wussten wir ja …

Also: „Gott spricht jiddisch“ von Tuvia Tenenbom ist eine dicke Leseempfehlung. Es ist ja auch ein dickes Buch. Von einem dicken Autor … ähäm … Ein dicker Mann mit Hosenträgern und einer roten Brille in Mea Shearim, der sich durch ultraorthoxe Küchen frisst – das kann kein ganz schlechtes Buch sein. Und richtig: Lesen!
Suhrkamp nova. ISBN 978-3-518-47335-1. Beim freundlichen Buchhändler oder falls der schon ausgewandert ist bei buch7.

Vielen Dank für dein Interesse an diesem Beitrag. Wenn er dir gefallen hat würde ich mich über ein LIKE freuen. Oder teile ihn doch mit deinen Freunden über ein soziales Netzwerk. Und am meisten freue ich mich natürlich über Kommentare, Kritik und Anregungen.

Illustrationen © Michael Kausch

Weitere interessante Artikel

Wien Prater

Meine zehn Geheim-Tipps für Wien. Ein Reiseführer in Bildern

“Wien hat lauter Wahrzeichen und jeder Wiener fühlt sich als solches” soll Karl Kraus einmal gesagt haben. Und wirklich ist Wien, eine Stadt mit gerade mal knapp zwei Millionen Einwohnern, voll gestellt mit Sehenswürdigkeiten. Die Entwicklung dieser Stadt ist völlig untypisch: Schon im jahr 1920 hatte Wien mehr als zwei Millionen Einwohner. Danach ist Wien verzwergt. Damals war Wien eine turbulente Metropole, Hautpstadt einer Großmacht. Und das sieht man dieser Stadt heute noch an allen Ecken und Enden an. Hier ist alles ein wenig zu groß geraten: die Straßen, die Theater, die Bürgerhäuser, die Museen, das Selbstbewusstsein ihrer Einwohner. Selbst das Rad ist ein RIESENrad.

Weiterlesen »

Eine Antwort

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.