Vinyl

Plattenkiste 20: Vinyl zum Jahresende

Die letzte Plattenkiste des Jahres 2025 ist gefüllt mit tanzbarem Piazzolla, grübeligem Schwedencohen, revolutionärem Brecht, altseeligem Klarinettenjazz und mondsüchtigem Frankenrock. Ein Kessel Buntes zum Jahresende.

Bolivar Soloists: Musica de Astor Piazzolla

Diese Aufnahme ist ganz besonders: es handelt sich um eine „Direct to Disc Aufnahme“, d.h. die Platte wurde direkt während des Konzerts auf Lackfolie geschnitten. Die Musik wird also nicht irgendwo zwischengespeichert und nachträglich verändert. Alles, was während der Aufnahme akustisch passiert ist auf der Platte zu hören: jedes Räuspern im Publikum, jeder Fehlgriff der Musiker. Mehr Live geht nicht.
„Direct to Disc“ ist eine Spezialität der Berliner Meister Schallplatten. Dort liebt man dieses Aufnahmeverfahrens. Dort kennt man die Tücken, aber auch die Vorteile dieses Verfahrens. Wenn man es gut macht und wenn man die richtigen Musiker hat, dann vermitteln Direct to Disc-Aufnahmen eine Unmittelbarkeit, die mit nichts zu vergleichen ist. Der Live-Moment der Aufnahmesituation überträgt sich auf die Haltung der Musizierenden: sie MÜSSEN hochkonzentriert sein. Sie müssen sich aufeinander einstellen, sie müssen voll und ganz ihre Musik während der Session leben.

Die Musiker der Bolivar Soloists bringen alles mit, was für eine solche Live-Situation notwendig ist: unbändige Spielfreude und absolute Virtuosität. Und das kann man hören. Piazzolla-Gute-Laune vom Feinsten. Wessen Knie beim Zuhören ruhig bleiben, der ist gelähmt, wer still sitzen bleibt ist beinamputiert. Das ist keine Platze für andächtige Winterabende.

Jan Erik Lundqvist: Leonard Cohen auf Schwedisch Vol 2

Das ist schon eher etwas für lange Winterabende und Punsch am Kaminfeuer: „Stängningsdags“, zu deutsch „Feierabend“, im Original „Closing Time“. Man singt Schwedisch, und zwar Leonard Cohen und „man“ ist „Jan Erik Lundqvist“. Der sonore Schwedenhappen kommt in überragender Aufnahmequalität daher, dafür bürgt schon das Label „Meyer Records“. Das Platte wird ob ihrer Aufnahmequalität gerne als Test-Scheibe bei Hifi-Messen genutzt. Verständlich. Auch die Qualität der Cohen-Interpretation durch Lundqvist ist sicherlich ausgezeichnet. Sogar der Meister selbst (R.I.P.) hat sich außerordentlich positiv über den Schweden geäußert: „Ich genieße und schätze seine Versionen meiner Lieder. Er hat sie wirklich zum Leben erweckt. Was für ein Sänger! Ich bin tief berührt.“ Und ja: besser als „Last Chrismas“ ist das allemal in der „staden Zeit“ …

Bert Brecht: Die Mutter

Ich habe Brechts „Mutter“ vor vielen Jahren im Berliner Ensemble mit der wunderbaren Carmen Maja Antoni gesehen. Auf Vinyl habe ich die Version der Inszenierung der Schaubühne am Halleschen Ufer Berlin, in der Therese Giehse unter der Regie von Peter Stein die Hauptrolle spielt. „Die Giehse“ – was soll man über sie schon viel sagen. Eine Bühnenpräsenz, dass die Bretter singen. Anfang der 70iger spielten in der Schaubühne neben ihr Jutta Lampe, Otto Sander, Bruno Ganz, Monica Bleibtreu, Günter Lampe und Eislers Musik dirigierte ein Geringerer als Peter Fischer. Das war schon ein Starensemble, das Peter Stein da zusammengetrommelt hatte.

Sidney Bechet: Sidney Bechet And His Blue Note Jazz Men

Eine recht rare Mono-Aufnahme aus dem Jahr 1950 von Vogue Records. Zu hören sind u.a. Klassiker wie „Memphis Blues“, „Shine“ und „Save It Pretty Mama“. Bechet war einer der ganz Großen des frühen Jazz. Er lebte lange in New Orleans, spielte mit Louis Armstrong und Duke Ellington. Auf der Flucht vor rassistischer Verfolgung in Amerika zog er später für nach Frankreich. Dort starb er auch. Sidney Bechet gehört zu den wichtigsten Vertretern des New Orleans Jazz und war einer der besten Klarinettisten und Saxophonisten seiner Zeit.

Ihre Kinder: Die Fahrt zum Mond

„Ein kleiner Schritt für einen Musiker, ein großer Sprung für die Rock-Fans“. Na ja, ich bin mir nie ganz sicher, ob ich dieses Album wirklich mag. Ich bin ein großer Fan der Nürnberger R&B-Gruppe Ihre Kinder, die in den 70iger Jahren als eine der besten, wenn nicht gar „die beste“ deutschsprachige Blues-Band galt. Ich bin mit dieser Musik groß geworden, mit Songs wie „Mantel im Wind“ und „Leere Hände“. In den frühen 70iger Jahren waren die Kinder neben Ton Steine Scherben die ersten einigermaßen bekannten Deutschrocker. Udo Lindenberg hat sich später immer wieder auf die Kinder berufen.

„Die Fahrt zum Mond“ fällt musikalisch ein wenig aus dem üblichen Kinder-Muster. 1979 erschienen ist sie sowas wie ein Spätwerk der Kinder. Die Kinder zitieren allerlei literarische Motive rund um den Mond, etwa „Guter Mond, du gehst so stille“, aber auch den Maikäfer Summsemann aus „Peterchens Mondfahrt“ und stricken meist eher eingängige Melodien und leichte Texte drumherum. Manche Lieder könnte man auch in der Abteilung für Kinderkleidung vom Kaufhaus Hertie in der Nürnberger Fußgängerzone spielen. Ach nein, den Hertie gibt es ja nicht mehr. Die Kinder auch nicht mehr. Also sagen wir so: Die Platte ist „historisch wertvoll“.

Illustrationen © Michael Kausch

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