Der Kipod. Geschichten von Damals.

Irène Alenfeld: Der Kipod. Geschichten von Damals.

19 kleine Geschichten über ein jüdisches Leben. Nein: 19 große Geschichten über ein deutsches Leben. Aber nein: 19 wunderbare Geschichten über … ja über was eigentlich? Über die kleine und große Ruth. Ruth ist die Protagonistin dieses Buchs. Und die 19 Geschichten handeln von ihr, die im Berlin der Dreißiger Jahre in einer christlich-jüdischen Familie aufwächst. Der Bogen spannt sich von jenen Jahren der Nazi-Zeit bis zum Sechs-Tage-Krieg 1967. Und Ruth ist jüdisch, deutsch, christlich … Sie sitzt zwischen allen Stühlen. Wie so viele …
Und genau darum geht es in diesem Buch. Und genau das hat mich berührt und bis in Herz und Hirn getroffen. Denn es geht einmal NICHT um Juden in Deutschland und jüdisch sein in Deutschland und Deutsche und Israel und deutschen Antisemitismus. Die Blickrichtung ist dieses Mal anders. Die Blickrichtung ist richtig.

Das Jüdische im Deutschen

Irène Alenfeld begreift – wenn ich sie richtig begreife –  das Jüdische als Teil des Deutschen, die jüdische Kultur als Teil der deutschen Kultur. Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Die Shoah war eine Amputation der deutschen Kultur. Wir Deutsche haben mit der Shoah einen Teil unserer ureigenen Kultur und Geschichte gemordet und – für immer? – verloren.

In der kleinen Geschichte „Hoch am Himmel fliegt a Schwälble“ berichtet Alenfeld mit der Stimme von Ruth von einem Ausflug mit Freunden in Israel. Die Freunde begannen Volkslieder aus ihrer Heimat zu singen. Joseph aus Griechenland, Shoshanna aus Osteuropa und als Ruth an der Reihe war ein Lied anzustimmen, wagte diese nicht ein deutsches Volkslied von sich zu geben. Das deutsche Liedgut war von den Nazis zwischen 1933 und 1945 so missbraucht worden, dass sie es nicht mehr zu singen wagte, erst recht nicht in Israel, dem Zufluchtsort der Opfer. Sie stimmte ein jiddisches Lied an, eben das Lied „Hoch am Himmel fliegt a Schwälble“.

Beim Lesen erinnerte ich mich spontan an meine Studienzeit, als ich mit internationalen Freunden eines Abends am Lagerfeuer saß und wir alle Lieder aus unseren Heimatländern anstimmten. Mit dabei unter anderem ein Perser, eine Chinesin, eine Französin, zwei Griechen und ein Italiener, der natürlich das international berühmte Bella Ciao anstimmte. Ich aber sang gerade so wie Ruth das wunderbare Lied vom Vogel, der hoch im Himmel fliegt. Einige von Euch kennen dieses Lied vermutlich unter dem Titel „Dos Kelbl“:

„Ojfn Forel ligt a Kelbl
ligt gebundn mit a schtrik
– hojch in Himl fligt a Fojgl,
fligt un drejt sich hin un ts’rik.
Lacht der Wind in Korn,
lacht un lacht un lacht
– lacht er op a Tog a gantsn
un a halbe Nacht.“

Ruth sang es – wie ich damals – in jiddisch, in der Mameloschn.

War Ruth nun jüdisch oder nicht? Ihre beide Eltern hatten jüdische Vorfahren, waren aber schon vor 1933 zur bekennenden Kirche übergetreten. Ruth war also Christin. Nach der Halacha war sie natürlich Jüdin, da sie eine jüdische Mutter hatte. Mit den Fragen „Wer ist Jude?“ und „Wer ist Jüdin?“ tut sich Israel heute noch schwer. Ob die Halacha heute noch zeitgemäß ist, wonach jeder Mensch jüdisch ist, der eine jüdische Mutter hat oder nach den Regeln der Halacha ins Judentum übergetreten ist, ist in Israel politisch und juristisch seit vielen Jahren heftig umstritten. Irène Alenfeld streift auch das Thema der sogenannten „Vaterjuden“, also der Menschen, deren Vater jüdisch ist, deren Mutter aber eben nicht. Diese wurden und werden von vielen Juden nicht als jüdisch anerkannt. Die deutschen Nazis haben sie aber immer klar eingeordnet, als „Halbjuden“. „Vaterjuden“ war für deutsche Faschisten jüdisch, für orthodoxe Juden nicht jüdisch. Blöd gelaufen. Der Graubereich zwischen Jüdischkeit und Deutschsein hatte viele Schattierungen. Eben weil das kein wirklicher Gegensatz war. Es gibt sie ja nicht, diese Dings … diese „Rassen“ …

So kam es auch, dass zum Beispiel in Österreich oder im Sudetenland unehelich Geborene nach dem Anschluss ihrer Wohnorte ans Deutsche Reich plötzlich massenhaft arisiert wurden. Plötzlich war ja eine arische Abkunft nachzuweisen. So kamen 1938 viele kleine Sudetendeutsche und Österreicher zu arischen leiblichen Vätern. Diese arischen Väter gab es damals für kleines Geld. Auch mein Vater bekam 1938 einen leiblichen arischen Vater. Er war 1930 vaterlos geboren worden, längst „arisch“ adoptiert, was aber für den Ariernachweis natürlich nicht ausreichend war. Geboren wurde er übrigens im sudetendeutschen Hotzenplotz. Dem Räuber konnte man die Vaterschaft nicht unterschieben, unbefleckte Empfängnisse waren auch in den katholischen Kreisen meiner sudetendeutschen Großmutter seit knapp zweitausend Jahren ein wenig aus der Mode gekommen. Die arische Herkunft meines Vaters war aber schon wichtig. Schließlich kam auch der Ortsgruppenleiter der NSDAP aus der Mischpoke, halt, nein, aus der Familie.

Übrigens: In Hotzenplotz, dem heutigen Osoblaha, findet man heute den nach Prag zweitgrößten jüdischen Friedhof Tschechiens, sehr sehenswert …

Der jüdische Friedhof von Osoblaha (Hotzenplotz)

Zurück zum Buch: Ach, eigentlich schreibe ich die ganze Zeit von diesem Buch. Denn genau darum geht es in diesem Buch: davon, dass Ruth immer zwischen den Stühlen sitzt und steht: in Israel ist sie “die Deutsche“, dabei sucht sie doch auch nach ihren jüdischen Wurzeln. Aber sie empfindet nicht jüdisch, sie ist so säkular, wie man nur sein kann. Sie will sich nicht anbiedern. Sie will die jüdische Seite so sehr verstehen, wie die palästinensische. Auch das noch. Und sie will dabei niemanden in Israel belehren. Deutsche tun das ja eigentlich recht gerne. Sie aber maßt sich nichts an. Sie hat keine Lösungen für die unseligen Konflikte in Israel und Palästina. Sie hat auch keine großen Hoffnungen. Sie hat nur 19 kleine Geschichten.

Und sie fühlt sich hin und her geworfen wie das kleine Tier in der Geschichte vom Kipod, der von Jugendlichen ins Meer geworfen wird und immer wieder verzweifelt zu entkommen versucht. Der Kipod, jenes Tier, das seine Stacheln nur zur Verteidigung hat und niemanden angreifen kann, das sich bei Gefahr nur einrollen kann. Ruth fühlt sich wohl häufig wie ein Kipod.

Sagte ich das schon? Dass „Kipod“ ist das hebräische Wort für „Igel“ ist?

Irène Alenfeld: Der Kipod. Geschichten von Damals. Aviva Verlag. ISBN 978-3-932338-59-5. Erhältlich im freundlichen Buchhandel oder wenn es den nicht mehr gibt bei Aviva.

Illustrationen © Michael Kausch

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