Cole Urchs Kausch

Die folgende Laudatio durfte ich anlässlich der Vorstellung des Buchs „Digitale Aufklärung“ von Tim Cole und Ossi Urchs am 7. Oktonber 2013 im Münchner Presseclub halten. Die darin zitierten zehn Thesen haben beide Autoren hier auf Czyslansky in kleinen Beiträgen zur Diskussion gestellt:

These 1: http://www.czyslansky.net/?p=9987

These 2: http://www.czyslansky.net/?p=10017

These 3: http://www.czyslansky.net/?p=10057

These 4: http://www.czyslansky.net/?p=10100

These 5: http://www.czyslansky.net/?p=10154

These 6: http://www.czyslansky.net/?p=10182

These 7: http://www.czyslansky.net/?p=10205

These 8: http://www.czyslansky.net/?p=10224

These 9: http://www.czyslansky.net/?p=10227

These 10: http://www.czyslansky.net/?p=10229

 

Laudatio

Worum geht es heute eigentlich? Um nichts wirklich Wichtiges. Nur um ein einfaches Buch. Also um etwas, das dem Aussterben längst anheim gegeben ist. Keine Ahnung, warum Sie sich für etwas so ganz und gar Altertümliches überhaupt noch interessieren. Vielleicht wegen des Inhalts. Es hat immerhin fast einhundert Seiten. Um genau zu sein: es enthält 291.453 Anschläge. Wir reden also über ein Buch in 2.082 Tweets.

Was heißt das?

Einerseits: ich selbst habe für ziemlich genau 4.000 Tweets vier Jahre und vier Monate gebraucht. Tim Cole und Ossi Urchs haben ihr Buch in nicht ganz zwei Jahren verfasst. Kurz: wenn Ihr uns etwas sagen wolltet, so hättet ihr das ebenso gut auch twittern können. Eure Anschlag-pro-Tag-Leistung entspricht derjenigen eines durchschnittlichen Twitteratis.

Andererseits: Tim hält dieses Buch für die Quintessenz von nicht weniger als dreißig Jahren, denn solange kennen sich die beiden Autoren schon. Ihre intellektuelle Blutsbrüderschaft beschlossen sie in ihrer gemeinsamen Zeit als „Edelfedern“ beim bekannten Frauenmagazin „Playboy“ in den 80iger Jahren des letzten Jahrhunderts des letzten Jahrtausends. Dieses Buch ist nichts weniger, als der Ausdruck einer wahren Altersfreundschaft.

Tim beschreibt in seinem Nachwort, wie er in den frühen 90iger Jahren zum ersten Mal vom „Internet“ hörte. Und sein Stichwortgeber war ausgerechnet Ossi Urchs. Dieser Urknall „Tim trifft das Internet“ begab sich, als Ossi ihm von der Band Greatful Dead vorschwärmte, jener Musikgruppe mit den immer etwas ältlichen Fans, die in Hippie-Klamotten und bunten VW Bussen quer und zielunbewusst wie die Lemminge durch den amerikanischen Kontinent kreuzten und deren Musik seinerzeit irgendwie „online und umsonst“ statt auf käuflichem Vinyl verbreitet wurde. Mit diesem Szenario im Kopf und der Befürchtung eines Tages als alternder Playboy-Reporter von der Biologie marginalisiert zu werden, beschloss Tim irgendwann Deutschlands erster Internet-Publizist zu werden. Er startete 1994 sein erstes Blog – den Uropa des Czyslansky-Blogs sozusagen – und traf sich in den kommenden Jahren immer wieder mit Ossi um Meinungen und Deinungen auszutauschen und so entstand im Laufe von bald dreißig langen Jahren ein erstes gemeinsames Buch, eben jenes Buch, um das es heute gehen soll.

Als ich dessen Titel zum ersten Mal von – ich weiß gar nicht mehr – Tim oder Ossi hörte, glaubte ich mich anfangs verhört zu haben: „Dialektik der Aufklärung“, hieß so nicht jenes Buch von Max Horkheimer und Theodor Adorno, das ich während meines Studiums in meinem Lesekreis – so etwas gab es damals noch – ausführlich zerpflückte? Und nun sollte ein spätes Reissue aus der Feder zweier älterer Herren aus meinem engeren Bekanntenkreis erscheinen?

Doch es handelte sich ganz offensichtlich um einen Hörfehler, vielleicht einen freudianischen, aber es ging den beiden nicht um Dialektik. Dialektik war ja auch schon lange nicht mehr en vogue. Sie war zum Digitalen zerronnen und ganz folgerichtig heißt das Buch also nicht „Dialektik der Aufklärung“, sondern „Digitale Aufklärung“. Aber immerhin das „Di“ verbindet beide Bücher schon auf den ersten Blick, die Zweiheit, ja auch die Zweiheit der Autorenschaft.

Horkheimer und Adorno, Licht und Schatten, Krieg und Frieden, Dick und Doof, Ossi und Wessi, Tim und Struppi, Tim und Ossi …

Wie schreibt man eigentlich ein Buch im Dialog? Tim Cole gibt uns erneut im Nachwort darüber Auskunft und ich darf zitieren:

„Es war Martin Janick vom Hanser-Verlag, der uns endlich den letzten Anstoß gab. Ich hatte mit Martin schon mehrere Bücher gemacht, und er war ganz scharf darauf, Ossi als Autor zu gewinnen. Der zierte sich aber noch ein bisschen, weil er eigentlich für so was keine Zeit habe, wie er sagte. Ich erzählte Martin davon, dass Ossi und ich schon lange über ein gemeinsames Buchprojekt nachdenken würden. Und Martin fand die Idee toll, denn dann müsste Ossi ja nur die halbe Arbeit machen…“

[Marginalie: Ossi ist ja im Gegensatz zu Tim kein Kind der protestantischen Arbeitsethik, sondern eher ein Kind intellektuell ewig umherwandernder indischer Gurus]

„Hätte er gewusst, was er damit angerichtet hat, dann würde er vermutlich zweimal nachgedacht haben, denn es stellte sich heraus, dass ein gemeinsames Buch doppelt so viel Arbeit macht. Es gibt grundsätzlich eigentlich nur zwei mögliche Vorgehensweisen. Man kann die Kapitel aufteilen, und jeder schreibt für sich allein, doch dann besteht die Gefahr, dass ein solches Buch stilistisch und gedanklich auseinanderklafft…. Wir haben das Problem ganz einfach gelöst, indem wir uns nämlich an unsere langen Gesprächsabende bei Lino erinnert und beschlossen haben, das Buch im Sinne eines neoplatonischen Dialogs tatsächlich gemeinsam zu schreiben. Dazu waren mehrere, manchmal tageslange Gesprächsrunden nötig, bei denen wir die jeweiligen Themen hin und her gewendet haben und uns langsam einer gemeinsamen Position genähert haben.“

Warum zitiere ich diese Stelle so ausführlich und geradezu emphatisch? Nein, nicht nur weil mich kollektives oder dialogisches Schreiben in heutiger Zeit besonders fasziniert – das tut es auch – sondern weil damit eines klar ist: Ihr könnt Euch heute nicht herausreden, dass eventuell zu kritisierende Stellen ja doch nur jeweils auf des anderen Hahns Mist gewachsen seien. Ihr steht beide – als Kollektiv – als ideeller Timossi oder Urchscole in der Verantwortung für das Geschriebene.

Und da die Fronten nun geklärt sind, können wir anfangen uns mit dem Buch, also mit Urchscole zu beschäftigen. Dabei möchte ich mir Walter Benjamin zum Vorbild und Marcel Reich-Ranicki zum Zeugen machen. Denn meine Vorgehensweise ist die von Walter Benjamin, der einmal schrieb, ein kritischer Leser möge sich ein gutes Buch vornehmen, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurichtet. Und der leider völlig zu Unrecht verstorbene Marcel Reich-Ranicki talkte am 18. Februar 1991: „Dies … ist keine Veranstaltung im Rahmen der Woche der Brüderlichkeit. Was schlecht ist, ist schlecht, und es muss gesagt werden.“

Nun denn: lass uns dein Buch, lieber Urchscole, anhand deiner zentralen zehn Thesen säuglingsmäßig zerlegen:

These 1

„Alles was sich digitalisieren lässt, wird digitalisiert. Alles, was sich vernetzen lässt, wird vernetzt. Und das verändert alles!“

Urchscole meint, die Digitalisierung habe eigentlich nur eine Ursache, nämlich den Zwang zur Erhöhung der Produktivität und zwar in der Sphäre der Produktion ebenso, wie in der Sphäre der Distribution. Und dieser Trend sei – aber das ist ja das Urprinzip des Kapitalismus – nicht aufzuhalten. Deshalb wird auch alles digitalisiert, was sich digitalisieren lässt.

Euer Lordschaft: Kein Einspruch von meiner Seite! Jedenfalls nicht an dieser frühen Stelle. Freilich mag über Deinen Fatalismus, lieber Urchscole an geeigneterer Position noch gestritten werden. Aber der Trend ist klar.

These 2

„Digitalisierung und Vernetzung sind kein Schnupfen: Sie gehen nicht wieder weg!“

Urchscole meint, Digitalisierung und Vernetzung könnten gar nicht weggehen, weil wir sie längst in uns aufgesogen haben. Wir sind deren Objekt und – nun argumentiert er ganz dialektisch – damit auch deren Subjekt. Digitalisierung und Vernetzung „haben die ganze Art wie wir leben und arbeiten, wie wir lernen und spielen, wie wir einkaufen und mit einander Geschäfte machen, wie wir uns unterhalten, insbesondere aber die Art wie wir kommunizieren ganz grundsätzlich verändert.“

Nun beginnt Dein hermetisches System, lieber Urchscole, langsam zwar, aber doch immerhin, Gestalt anzunehmen. Was bei Adorno und Horkheimer noch die Unmöglichkeit war, dem Verblendungszusammenhang zu entkommen, erweist sich bei dir, der des Jammerns offenbar überdrüssig ist, einfach als unausweichliche Notwendigkeit, der in späteren Kapiteln noch Hoffnung abzutrotzen sein wird. Einerseits.

Andererseits aber erscheint der Trend zur Digitalisierung und Vernetzung, den abzustreiten freilich Ausdruck eines völligen Kinderglaubens wäre, bei dir als in sich völlig widerspruchsfrei. Und hier mag ich ein erstes noch zaghaft – quasi in Pastelltönen – hingetupftes Fragezeichen setzen. Ist Digitalisierung in jedem Fall nach der Logik der Produktivitätssteigerung positiv zu sehen? Von unserem Mit-Czyslansky Sebastian von Bomhard stammt der frühe Einwurf:

„Wer auch immer unendlich viele unterschiedliche Zustände mit endlich vielen Zahlen zu speichern versucht, verliert notgedrungen Informationen.“

Sebastian von Bomhard drückt sich ja manchmal ein wenig verquast aus, alter bayerischer barocker Adel eben, aber lass es mich mal etwas lebensweltlicher formulieren: Die analoge Schallplatte enthält mehr Informationen, als jede digitale Aufnahme, und sei sie noch so hochauflösend, so wie jeder Röhrenverstärker gerade wegen seiner harmonischen Verzerrungen dem ursprünglichen Hörerlebnis näher kommt, als der digital perfekte Sandverstärker.

Was ich meine: Vernetzung und Digitalisierung sind – nicht im Ganzen – aber doch im Einzelnen systemkonform rückholbar. Ein Einspruch, der für die Freiheitsgrade unseres Handelns nicht völlig ohne Belang sein kann.

These 3

„Die digitale und die reale Welt durchdringen sich immer mehr. Das verändert beide mit rasender Geschwindigkeit und in einem bisher unvorstellbaren Maß.“

Urchscole meint, hinter Alice ihrem Spiegel, im parallelen digitalen Universum gehe es eigentlich zu, wie hier bei uns, oder bei Hempels unterm Sofa. Es gäbe dort „alles, was es diesseits auch gibt, nämlich Gutes und Böses, Schönes und Hässliches, dumme und kluge Menschen.“ Das tröstet nur auf den ersten Blick. Denn es gibt dort „auch Unterschiede zwischen diesen Welten, zum Beispiel andere Spielregeln. In „Alice im Wunderland“ [so Urchscole] darf zum Beispiel der König beim Schach so oft ziehen, wie er will – aber es wird dort immer noch Schach gespielt.“

Weit bedeutender als diese Regelkonformität aber sei die Durchdringung beider Welten. Google Glasses ändere tatsächlich die Welt, in der wir real lebten. Urchscole bringt uns im Folgenden zahllose hübsche und wirklich attraktive Beispiel für diese neue Infosphäre, die uns künftig umgibt, nahe: vom schlichten altbekannten Navigationsssytem, über Google Glasses bis zu wearable Computers. Alles kleine Düsentriebsche Helferleins, die wir bewusst und autonom nach unserem freien Willen ein- und abschalten können, wie es uns gefällt.

Einspruch? Ein Fragezeichen? Eher ein Addendum: Besteht diese Infosphäre wirklich nur aus braven Heinzelmännchen? Und sind wirklich alle Heinzelmännchen brav? Ist Teil der Infosphäre nicht auch jene Bedrohung unserer Entscheidungsfreiheit, die als offene Zensur und Kontrolle oder aber auch als verdeckte Manipulation uns eben davon abhält autonom über den Gebrauch neuer Werkzeuge zu entscheiden? Es müssen ja nicht gleich die Roboter die Macht übernehmen, aber vielleicht transponieren ja doch manche Roboter den Zement zu Verfestigung der Macht der heute Mächtigen?

These 4

„Digitalisierung und Vernetzung schaffen technisch und gesellschaftlich, kulturell und wissenschaftlich neue Bedingungen. Sie gilt es in Kategorien zu fassen und als Qualitäten zu verstehen.“

Und nun macht es Urchscole immer spannender: „Digitalisierung und Vernetzung verändern offensichtlich die gesamte Art und Weise wie wir Realität erleben, verstehen und verarbeiten. Doch damit nicht genug: auch die Bedingungen unter denen wir das tun, sind andauernd fortschreitenden Veränderungen ausgesetzt. Und zwar so schnell und dynamisch, dass wir unter dem Eindruck des immer wieder neuen Geschehens um uns herum drohen zu vergessen, es auch gedanklich und begrifflich zu erfassen. Wir brauchen also angesichts der neuen Entwicklungen und Erscheinungen … erst eine Begrifflichkeit, die ihnen auch gerecht wird. So wie Newton’s Mechanik nicht zur Beschreibung der Quantenphysik taugt, so helfen auch Vorstellungen und Begriffe der vergangenen Jahrhunderte herzlich wenig bei der Beschreibung der digital vernetzten Gegenwart.“

Gut gebrüllt Löwenherz. Das ist sicherlich richtig, dass wir mit dem begrenzten Verstand eines klassischen Print-Herausgebers digitale Algorithmen an der heimischen Börse als „Monster“ missverstehen müssen und dass ein solches Druck-Licht folgerichtig dazu neigt „Print als Therapie“ zu empfehlen.

Alles richtig, deshalb lasst uns hurtig zur nächsten These voranreiten:

These 5

„Massenmedien verlieren mit dieser Entwicklung nach 150 Jahren ihre gemeinschafts- und identitätsstiftende Funktion. Dadurch kehrt die Kommunikation gewissermaßen zu ihrem Ursprung zurück: Zum interpersonalen Austausch, der heute allerdings zunehmend digital und medial vermittelt stattfindet.“

Urchscole meint, das Ende der massenmedialen Einbahnstraße sei gekommen. Die alten Macher – vom Playboy-Journalisten bis zum FAZ-Herausgeber – würden auf verlorenem Posten noch um ihre althergebrachten Vorrechte im Zeitalter der Leser-Redakteure der BILD-Zeitung kämpfen. Urchscole erwartet das große Zeitungssterben und den Bedeutungsverlust der verbleibenden alten Medien. Seine Hoffnung gebiert Urchscole aus der Demaskierung der traditionellen Medien im digitalen Zeitalter:

„Zum anderen weiß das digital geschulte Publikum heute einfach zu viel über die Wirkungsweise massenmedialer Scheinwirklichkeiten, um ihnen noch zu erliegen: Wer einmal das „Dschungelcamp” gesehen hat, für den haben „Stars” endgültig ihren Zauber verloren. Und schließlich hat die Reichweite der ehemaligen Massenmedien inzwischen schon zu weit abgenommen, um noch identitätsstiftend wirken zu können (von Fußballspielen, olympischen Spielen und anderen Mega-Events einmal abgesehen).“

Und nun aber gebührt Dir ein erstes „So nicht Euer Ehren“: Der neue – wie Du schreibst – “zweite Strukturwandel der Öffentlichkeit” findet nicht ganz so schlicht statt, wie von Dir beschrieben. Dies liegt schon daran, dass die behauptete Dichotomie zwischen traditionellen Massenmedien und personaler Kommunikation so niemals gegeben war. Die große Samstagabendunterhaltung, der Derrick und die Sportschau erhielten ihre gesellschaftliche Bedeutung erst in dem sie zum Zeitgespräch der Konsumenten am nächsten Tag am Arbeitsplatz, in der Schule und am Gartenzaun wurden. Die Tagesschau war das Lagerfeuer der vergangenen Jahrzehnte, um das sich Familien abends versammelten. Es schloss die personale Kommunikation immer schon mit ein. Wir müssen die Medien immer in ihrem Rezeptionszusammenhang und nicht nur in ihrer Produktions- und Distributionsverfasstheit begreifen.

Zum Zweiten: Dass “das digital geschulte Publikum heute einfach zu viel über die Wirkungsweise massenmedialer Scheinwirklichkeiten” wisse, ist eine fromme Hoffnung. Das Dschungelcamp ist eben nicht seine eigene ironische und deshalb durchschaubare Überzeichnung. Es ist das Muster der wirklichen Zustände in unseren Schulklassen. Und es ist so wirksam wie die BILD-Zeitung, der niemand glaubt und die doch unserer Gesellschaft die Agenda aufzwingt. Das Wissen um die Falschheit der Medien macht freilich nicht gegen sie resistent.

Und weil dies alles so ist, ist dein Vertrauen auf den durch die Digitalisierung der Welt vermeintlich erreichten strukturellen Fortschritt, den wir nur noch mittels kritischer Medienpraxis in Befreiung zu wandeln haben, mindestens „diskussionswürdig“.

These 6

„Digitalisierung und Vernetzung produzieren eine dramatische Beschleunigung und disruptive Entwicklung von Technologien und Medien. Diese gilt es nicht zu beherrschen, sondern zu verstehen – und zu genießen.“

Ja sicher, mein lieber Urchscole, die neuen Medien sind disruptiv. Sie ändern häufig genug auf einen Schlag die Regeln unserer Kommunikation. Deshalb ist der Erfolg eines neuen digitalen Mediums auch von vornherein weniger noch abzuschätzen, als in früheren Epochen. Nokia lässt grüßen. Und vielleicht auch Microsoft. Nicht jede scheinbar gute Idee kann sich durchsetzen wie das iPhone das du so schön als Schweizer Messer des Internet beschreibst.

Bloß folgt doch – so meine ich – aus der unklaren Vermarktungsfähigkeit noch nicht die neue Marktmacht der Konsumenten, die letztlich nur den vernünftigen und beherrschbaren Werkzeugen zum Markterfolg verhilft.

These 7

„Das Leben in einer derart grundsätzlich anderen Welt wird komplexer, aber nicht komplizierter, sondern einfacher. Ganz anders stellen sich solche disruptiven Momente für die Nutzer der neuen Technologien und Medien dar, die gerade vor ihren Augen entstehen: Da sie die Folgen weder absehen noch managen müssen, können sie die neuen Möglichkeiten einfach genießen. Oder sie können sich für den Versuch entscheiden, sie zu verstehen.“

Urchscole nutzt nun einen fast schon genial zu nennenden Trick. Hören Sie zu. Er sagt: „Da sie [- die Konsumenten -] die Folgen weder absehen noch managen müssen, können sie die neuen Möglichkeiten einfach genießen.“

Aber das ist doch das vermeintliche Glück der Blumenfresser, der Lotophagen aus der Odysee, der Botschafter des Odysseus, die im Rausch die Sehnsucht nach ihrer Heimat vergessen. Das ist doch das Ende der Aufklärung.
Und doch siehst Du, lieber Urchscole auch noch eine Chance zur Aufklärung im Digitalen. „Oder sie können sich für den Versuch entscheiden, sie zu verstehen.“

Letztlich betreibt Urchscole hier ein Plädoyer für die Aufklärung, für Medienpädagogik und letztlich hält er sich hier ein Hintertürchen frei, diese Hoffnung nur um der Hoffnungslosen willen zu hegen, oder um es ein wenig mit Gramsci zu sagen: vielleicht ist Urchscole ja einfach ein Optimist der Tat und sein Buch soll ein Buch der Tat sein, und blendet deshalb den angebrachten oder doch zumindest möglichen oder wenigstens erlaubten Pessimismus der Intelligenz aus. Darauf zumindest deutet die achte These – wenn auch mit einer entscheidenden Differenz – hin:

These 8

„Auch der Mensch und sein Denken verändern sich grundsätzlich: Er funktioniert und denkt zunehmend digital und vernetzt. Und das in Echtzeit.“

Urchscole hofft also doch nicht „nur“ um der Hoffnungslosen willen – wie Bloch – und auch wenn er auf den schlichten Positivisten Sloterdijk verweist „Du musst  dein Leben ändern “ geht er doch über diesen hinaus, wenn er seine Hoffnung aus der Gleichheit von Denken und digitalen Systemen bezieht. Urchscole schreibt:

Es geht „heute andauernd und immer wieder um die (geistes-)athletische Übung, das eigene Denken neu zu gestalten. Wenn schon nicht direkt hilfreich, dann doch tröstlich mag bei diesem anstrengendem Training die Gewissheit sein, dass die heute aktuelle Lektion vor allem darin besteht, digitale und vernetzte Systeme zu erfassen und geistig zu durchdringen, also eigentlich so zu funktionieren wie das menschliche Denken selbst … Das menschliche Denken funktioniert, darin sind sich Kognitionswissenschaftler heute weitgehend einig, so wie ein digitales Netzwerk.“

Und dieser schlichte Satz, bezeichnet – aus meiner Sicht – den zentralen und wirklich originellen Denkansatz von Urchscole. Wenn Sie der ganze Rest vom Fest nicht interessiert, setzen Sie sich mit dieser These auseinander. Sie weist uns einen Ausweg aus dem hermetisch Falschen, aus der Hoffnungslosigkeit der „Dialektik der Aufklärung“. Und sie tut dies mit einem unverhofft technizistischem Ansatz: die neuen digitalen Technologien bewahren in sich die Chance zur Emanzipation, weil sie anders als frühere Technologien menschenwürdig in ihrer inneren Logik sind.

Es ist verhext, lieber Urchscole: hierüber habe ich noch kein Urteil gesprochen.

These 9

„Begriffe und Erfahrungen aus der analogen Vergangenheit werden dieser, sich dynamisch weiter entwickelnden Gegenwart immer weniger gerecht. Sie wirken in der aktuellen Debatte ebenso naiv wie unpassend oder überheblich. In jedem Fall aber hilflos.“

Urchscole paraphrasiert hier seine vierte These, und wie jene reizt diese mich nicht zum Widerspruch, aber auch nicht zu neugieriger Euphorie. Und wieder will ich rasch zur nächsten, zur zehnten und letzten These weiter reiten:

These 10

„Wir brauchen eine „digitale Aufklärung“: neu und selbst gedachte Kategorien, die allein dieser grundsätzlich veränderten Welt gerecht werden können. Nur damit können wir diese Welt kritisch reflektieren und produktiv nutzen.“

Urchscole kündigt etwas an, was noch nicht geleistet ist, aber nach seinem Buch dringlicher denn je erscheint: eine Gesellschaftstheorie des Internet. Ja er verweist in seinem Buch auf die große Parallele zwischen dem Paradigmenwechsel der Digitalisierung und dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Ich zitiere ein letztes Mal, und zwar ein Stelle aus dem Buch, in dem Urchscole sich mit der Gruppe Anonymous beschäftigt:

„Es gibt eine bemerkenswerte historische Parallele, die Bardeau und Danet beschreiben, und die es verdient, an dieser Stelle wiederholt zu werden: ‚Könnte Anonymous, das aus einem offenen und auf Zusammenarbeit basierenden Internet hervorging – so wie die Aufklärung aus der Erfindung des Buchdrucks hervorgegangen war und zur Französischen Revolution führte – die Speerspitze einer weltweiten Revolution sein?'“

Urchscole, du formulierst das ein wenig arg mechanistisch, aber in der Konsequenz geh ich mit dir d’accord und so macht dein Buch doch auch nur Sinn: dass wir endlich daran arbeiten, zu beschreiben wie das Internet das Ende der bürgerlichen Gesellschaft, so wie wir sie heute kennen, wenn nicht wirklich bewirkt, so doch begleitet und kennzeichnet. Von der Verabschiedung des individualistischen Urheberrechts über die Ablösung dessen, was uns als „Privatheit“ mehr als 200 Jahre schützenswert erschien, bis zur Vergesellschaftlichung der Produktion, die an die Stelle der Idee der Vergesellschaftung der Produktionsmittel getreten ist: überall ist die Logik der bürgerlichen Gesellschaft am Ende. Dein Buch, lieber Urchscole, steht nicht am Ende des dazugehören Diskurses. es steht am Anfang einer überfälligen Diskussion.

Schluss und Abrechnung

Lieber Urchscole, Du hast mich um eine Laudatio gebeten, nicht um einen Panegyrikus. Die Laudatio darf und soll den Diskurs durch kritisch-solidarische Annotationen anstacheln. Dies war mein Bestreben.
Zu Allerletzt sei noch einmal Marcel Reich-Ranicki zitiert. Der schloss sein Literarisches Quartett einmal mit den schönen Worten: „Wir werden uns nicht einigen und wir sollen und müssen uns nicht einigen. Freunde, wir sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

Lieber Ossi, lieber Tim: Danke für Euer Buch.

Übrigens: Das Buch gibt es hier!

6 Antworten

  1. Das muss mit Sicherheit einer der längsten – und einer der besten – Texte sein, die bisher auf Czyslansky erschienen sind – Glückwunsch;

  2. Da an anderer Stelle das gerade diskutiert wurde: Euer gedrucktes Buch hat natürlich rund 200 Seiten, nicht 100. Aber meine textidentische elektronische Vorabversion kam nur auf 100 Seiten. Digital ist eben irgendwie „dichter“ 😉

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