Zuckmayer Deutschlandbericht

Carl Zuckmayer: Deutschlandbericht. Mein Buch-Tipp zu "80 Jahre Kriegsende"

80 Jahre nach Kriegsende waren die Medien ja voll mit Berichten, Erinnerungen, Film- und Buchbesprechungen. Mein wichtigstes Buch zum Thema ist sicherlich dieser „Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika“, verfasst von Carl Zuckmayer im Jahr 1946. 125 Tage verbrachte Zuckmayer zwischen November 1946 und März 1947 im Auftrag des Kriegsministeriums der USA in Deutschland und Österreich um über den Alltag und insbesondere auch über das kulturelle Leben im zerstörten Deutschland zu berichten. Sein Augenzeugenbericht ist scharf analytisch und zugleich voller emotionaler Wärme und leidenschaftlicher demokratischer Parteilichkeit. Ich kenne keine Schilderung aus den Trümmern Nachkriegsdeutschlands, die intensiver Herz und Hirn gleichermaßen zu treffen vermögen, als dieser Deutschlandbericht.

Carl Zuckmayer ist sicherlich einer der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller des 20igsten Jahrhunderts. Geboren 1896 musste er als Jude und Antifaschist 1933 emigrieren, erst nach Österreich, 1983 dann in die Schweiz und schließlich in die USA. Nach dem Krieg kehrte er nach Europa zurück und nahm neben der amerikanischen die schweizerische Staatsbürgerschaft an. Zu seinen bekanntesten Werken gehören „Der Hauptmann von Köpenick“, „Des Teufels General“, „Als wär’s ein Stück von mir“ und – natürlich – das Drehbuch von „Der blaue Engel“.

Carl Zuckmayer: ein deutscher Amerikaner

Seine Bücher und Stücke wurden von den Nazis 1933 verboten und auch wenn Zuckmayer nach Verfolgung und erzwungener Emigration nie mehr die deutsche Staatbürgerschaft annahm, so blieb er seinem Heimatland doch zeitlebens aufs Engste verbunden. Sein Deutschlandbericht ist durchdrungen vom Wunsch mit seinen Aufzeichnungen einen Beitrag zur „Reeducation“ durch die Alliierten und vor allem durch die USA zu leisten.

Während seiner Reise hatte er intensiven Kontakt zu amerikanischen und zum Teil auch zu britischen, französischen und sowjetischen Kulturverantwortlichen und beriet diese beim Aufbau von Theatergruppen oder einer neuen deutschen Filmwirtschaft. Teil des Buches ist deshalb auch ein sehr aufschlussreicher „Bericht über die Filmsituation in Deutschland“. Hier plädiert Zuckmayer nicht nur für den Aufbau neuer Produktionsmöglichkeiten insbesondere in München in Geiselgasteig, sondern vor allem auch für eine Verleihorganisation für dokumentarische Kurzfilme, vor allem für die Jugend und den Einsatz an Schulen. Neuproduktionen sollten sich Widerstandsthemen wie der Münchner Widerstandsgruppe „Die Weiße Rose“ widmen, um den Deutschen zu zeigen, dass Widerstand vor 1945 möglich war und geleistet wurde. Es sollten Orientierungs- und  Identifikationsmöglichkeiten jenseits der alten Nazi-Größen aufgezeigt werden.

Von deutschen „Geschäftsmännern“ und russischen „Businessmen“

Überhaupt zeichnete Zuckmayer ein Bild der völligen Orientierungslosigkeit im jungen Nachkriegsdeutschland. Seine Schilderung deutscher Jugendlicher erinnert frappierend an die „Businessmen“, die mir nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems in den letzten Tagen der Sowjetunion begegnet sind. So berichtet er von einem Zweiundzwanzigjährigen mit Namen „Dieter“, der sich selbst vollmundig als „Geschäftsmann“ bezeichnet:

„Er lud mich auf einen Drink in seine Lieblingsbar ein, einen Schwarzmarkttreff in der Nähe des Bahnhofs. Wir mussten durch einen dunklen Hinterhof voller Trümmer hineingehen, aber ohne allzuviel Heimlichtuerei. Es gab `Eleganz´ mit künstlichen Blumen, eine Drei-Mann-Combo spielte Pseudo-Swing-Musik, ein höllischer Schnaps wurde für phantastische Preise oder für amerikanische Zigaretten serviert. Auf einem großen Schild über dem Bartisch stand: `Kein Zutritt für Minderjährige´, Man sah zumeist Jungen und Mädchen, die vielleicht zwischen sechzehn und dreiundzwanzig waren. Geschäftsleute – und ihre Begleitung. …

`Ja ich bin Geschäftsmann. Das einzig Vernünftige, was man machen kann. Aber man muss höllisch auf Draht sein. Sehen Sie sich mal den fetten alten Mann an der Bar an. Das ist der, der die Waren von den Bauern … hereinbringt. Aber er hat nicht den Mumm, damit zu handeln. Er hat das Auto und das Bargeld, aber ich habe die Schlauheit und die Unverfrorenheit. Sie können sicher sein, dass ich schlauer bin als er. Rund fünfhundert Mark verdiene ich am Tag – vierhundert gebe ich fürs Essen aus. Für diese Art von Leben muss ich stark sein. Hundert lege ich für einen neuen Anzug zurück – warten Sie mal, bis ich ihn rage! Dann werden Sie sehen, dass ich Geschäftsmann bin.´

So zitiert Zuckmayer seinen Dieter. Man muss nur wenige Wörter austauschen und hat die Startup-Geschichte der späteren russischen Oligarchen vor sich…

Der Hauptmann von Köpenick lebt nach 1945 wieder auf

Und Zuckmayer erklärt auch, warum diese zwielichtigen Gestalten 1946 im Trümmerdeutschland entstehen konnten. Er kann das so gut erklären, weil er zwanzig Jahre früher den Hauptmann von Köpenick geschrieben hat. Einer der jungen deutschen Businessmen erläutert ihm:

„Arbeiten? Scheiße. Geh´n Se und versuch Se´s mal Mister. Hab´ ich gemacht. … Wer in dieser Stadt arbeiten will, braucht eine Arbeitserlaubnis, und die bekommt man nicht, solange man keine Wohnungsgenehmigung hatte, und man bekommt keine Wohnungsgenehmigung oder Lebensmittelkarten, solange man keine Arbeitserlaubnis hat. Das alte Karussell.“

Das ist fast wortwörtlich aus dem Hauptmann. Das deutsche Elend hat Tradition: nach 1945 ist nach 1919. Aber Carl Zuckmayer kämpft dafür, dass es mit Hilfe der Alliierten dieses Mal anders wird.

Heute leben wir nicht in einer Nachkriegszeit. Aber wir leben immer und immer wieder in Nachkrisenzeiten und in internationalen Nachkriegszeiten. Und genau deshalb ist der Deutschlandbericht von Carl Zuckmayer auch nach 80 Jahren noch immer aktuell. Deshalb hat Sabine Fröhlich so ganz und gar unrecht, wenn sie in der NZZ vor vielen Jahren behauptet, dieses Buch habe uns heute nichts mehr zu sagen. Unfug.

Carl Zuckmayer: Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika.
Herausgegeben von Gunther Nickel, Johanna Schrön und Hans Wagener im Wallstein Verlag

Illustrationen © Michael Kausch

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