Michael Thumann. Eisiges Schweigen flussabwärts.

Buchvorstellung: Michael Thumann: Eisiges Schweigen flussabwärts. Eine Reise von Moskau nach Berlin.

Michael Thumann arbeitet als Korrespondent der ZEIT in Moskau und Berlin. Russland kennt er seit vielen Jahren gut. Schon zwischen 1996 und 2001 berichtete er von der Moskwa für die ZEIT, im Jahr 2000 forschte er an der Moskauer Lomonossow Universität über russischen Föderalismus. Er kennt also auch die Zeiten von Glasnost und Perestrojka, nicht nur die bleierne Zeit unter Putin.

Thumann kennt die Zeit der Träume, die Jahre, als der „Wind of Change“ durch Moskau wehte. Und er trauert um diese Zeit. Das spürt man in jeder Zeile seines Buchs „Eisiges Schweigen flussabwärts“. Er beschreibt darin eine Reise entlang der Westgrenze Russlands. Eigentlich sind es mehrere Fahrten, in denen er immer wieder Grenzen überquert, da wo man sie noch überqueren kann. Er steht an der finnisch-russischen Grenze, überschreitet den einzigen offen Grenzübergang zwischen Russland und der EU in der Nähe des estnischen Narva, unterhält sich mit Russen in der russischen Enklave Kaliningrad. Und immer wieder tangiert er deutsche Geschichte. Natürlich im ehemaligen Ostpreussen, an der Memel, im polnischen Rastenburg – ja, an der unseeligen Hitlerschen Wolfsschanze.

Ein Riss geht durch Daugavpils

Und überall spricht er mit Menschen, die sich scheinbar mit dem neuen eisernen Vorhang arrangiert haben. Einige der Orte, die er aufsucht, kenne ich ganz gut, etwa das lettische Daugavpils. Er schildert die Zerrissenheit dieser Stadt im östlichen Teil Lettlands, in Lettgallen. Mit knapp 80.000 Einwohnern ist Daugavpils die zweitgrößte lettische Stadt. Die meisten Einwohner sprechen russisch. Und wie in ganz Lettgallen wurden viele zu Sowjetzeiten aus Russland hier angesiedelt, um in den hier ansässigen und inzwischen geschlossenen Fabriken zu arbeiten.

Daneben leben hier noch einige Angehörige der russischen altgläubigen orthodoxen Kirche. Und es Letten, die in ihrem eigenen Staat eine Minderheit bilden. Russisch hat als zweite Amtssprache seinen Status verloren. Wer die lettische Staatsbürgerschaft erlangen will, muss gute russische Sprachkenntnisse nachweisen. Die wenigsten der Bürger der Region können dies. Viele Menschen in Lettgallen sind deshalb nicht nur arbeits-, sondern auch staatenlos. Andere haben vor Jahren einen russischen Pass angenommen, weil sie damit zugleich Anspruch auf eine russische Rente erhalten haben. Das sind aber heute nicht einmal 600 Euro pro Monat. Davon kann man auch in Lettland nicht überleben. Und mit der russischen Rente haben sie alle Ansprüche auf lettische Sozialleistungen verloren.

Die Situation erinnert fatal an die Situation in den östlichen Provinzen der Ukraine vor dem russischen Überfall. Die soziale, politische und kulturelle Ausgrenzung der russischen Bürger in Lettgallen bildet eine willkommene Grundlage für die revisionistischen Ansprüche Putins gegenüber Lettland. Michael Thumann schildert diese Situation und die russische Propaganda in Daugavpils leider korrekt in seinem Kapitel „Ein Riss geht durch Dauavpils“.

Ein von Russen bewohnte Siedlung in Lettgallen

Georgien, Grenzstaat der Flüchtlinge zwischen Russland und Europa

Ebenso eindrücklich sind seine Schilderungen aus Georgien, einem Land, in dem zahlreiche Exilanten aus dem Putinschen Russland Zuflucht gefunden haben. Er erzählt von Treffen mit jungen Europa-orientierten Georgiern und gemeinsamen Essen und Filmabenden mit russischen Zuwanderern, die es unter Putin nicht mehr ausgehalten haben. In Georgien können sie Thumann offen von ihren Erlebnissen mit der russischen Polizei und dem russischen Geheimdienst berichten:

„Der Moskauer Jurij S. schaute sich in der Metro auf seinem Mobiltelefon Anti-Kriegs-Clips an. ein schräg von links spähender Sitznachbar erkannte darin eine Diskriminierung der Armee und rief die Polizei. Kurz drauf wurde Jurij S. verhaftet, sein handy konfisziert. Er saß 14 Tage im Gefängnis.“

Moskau kann Odessa nicht vergessen

Grenzen schützen nicht, sondern behindern

Thumann schildert aber auch, wie viele Russen noch immer hinter ihrer Regierung in Sachen Ukraine-Krieg stehen. Er berichtet, wie gut die russische Kriegspropaganda gegenüber der eigenen Bevölkerung funktioniert. Und er hält deshalb auch die Abschottungspolitik des Westens gegenüber Russland für falsch. Je stärker sich der Westen von Russland abschottet, desto mehr liefert er die Menschen in Russland der russischen Propaganda aus. Jede Begegnung zwischen Ost und West ist heute wichtig, egal ob im Sport oder im kulturellen Bereich. Dass Russland die Grenzen dicht macht, können wir nicht verhindern. Aber wir dürfen nicht vom Westen aus die Grenzmauern noch höher machen, als sie eh schon sind. Wer sich gegen Grenzen wehrt, akzeptiert nicht die Politik anderer Regierungen, sondern hält den Gedankenaustausch zwischen den Menschen am Leben. Das können wir von einem Korrespondenten lernen.

Das Buch ist wichtig.

„Ich folge der Moskva
Runter zum Gorky Park
Dem Wind der Veränderung lauschend

Eine Sommernacht im August
Soldaten marschieren vorbei
Dem Wind der Veränderung lauschend

Die Welt wird kleiner
Und hast du je gedacht
Dass wir so nahe sein könnten, wie Brüder?

Die Zukunft liegt in der Luft
Ich kann sie fühlen, überall
Sie weht mit dem Wind der Veränderung

Bring mich zu der Magie des Moments
In einer glorreichen Nacht
Wo die Kinder von Morgen vor sich hinträumen
Im Wind der Veränderung.“

Aus: Wind of Chance, Scorpions

Illustrationen © Michael Kausch

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