Vielleicht kommt es ja doch auf die Schwanzlänge an. Jedenfalls hat Wilfried Ruß von der Münchner Firma 1stPlan auf seinem Firmen-Blog eine interessante Diskussion vom Zaun gebrochen über Sinn oder Unsinn der Long Tail-Theorie, nach der ein Anbieter im Internet durch eine große Anzahl an Nischenprodukten Gewinn machen kann, weil die geographischen Beschränkungen, die in einem konventionellen, realen Markt die Kosten, um Nischen anzubieten und zu erreichen, zu sehr in die Höhe treibt. Im (globalen) Internet dagegen sei die Nachfrage theoretisch so gut wie unbegrenzt, die Chancen, den einen Kunden zu erreichen, der ausgerechnet dieses äußerst esoterische Produkt besitzen will, sehr groß.

Alles Quatsch, behauptet nun die Harvard-Professorin Anita Elberse in einem Artikel für die Harvard Business Review („Should You Invest in the Long Tail?“). Nischenmärkte sind reine Zeitverschwendung, erfolgreiche Unternehmer sollen sich weiterhin auf Bestseller konzentrieren. Gut, sie sagt es sehr viel nunacierter, aber das ist jedenfalls die Botschaft, die bei mir angekommen ist.

Wenn ich ein Medienkonzern oder ein Großverlag wäre, dann würde mich die Analyse der Frau Professorin wahrscheinlich auch fröhlich stimmen. Aber ich hätte mich zu früh gefreut.

Was sie schreibt, klingt zunächst bestechend: „Obwohl niemand bezweifelt, dass der Long Tail immer länger wird … ist davon auszugehen, dass er gleichzeitig immer flacher wird.“ Sie untermauert das aber ausgerechnet mit Zahlen aus der Musikindustrie, die vermutlich am ärgsten vom Internet gebeutelte Branche überhaupt.

Bei Rhapsody, dem Online-Musikdienst von RealNetworks, machen die beliebtesten zehn Prozent aller Titel zusammen 78 Prozent aller Downloads aus. Schlimmer noch: Der eine Prozent der Titel an der Spitze der Charts sorgen für 32 Prozent des Traffics. Bei einer Million angebotener Titel sei ein Prozent schließlich 10.000 Songs – „so viel wie ein typischer WalMart-Laden auf Lager hat.“ Ein kluger Musikhändler wird sich also auf die wenigen Bestseller konzentrieren und den langen, flachen Rattenschwanz der Titel, die selten oder gar nicht drehen, lieber irgendwelchen kleinen Nischen-Playern überlassen.

Chris Anderson, Chefredakteur der Zeitschrift „Wired “ und der Autor des Buchs „The Long Tail: Why the Future of Business Is Selling Less of More“ macht in seiner Replik auf Elberse’s Essay eine ganz andere Rechnung auf: Wenn ein Prozent aller Titel 32 Prozent der Verkäufe ausmachen, ein WalMart Superstore aber sowieso nur ein Prozent aller Titel anbieten kann, dann umfasst der Long Tail ja 68 Prozent aller verkauften Musikstücke.

Wohl demjenigen, der sich als Unternehmer leisten kann, 68 Prozent seines potenziellen Marktes einfach links liegen zu lassen.

Außerdem ist die Musikbranche ja gerade der beste Beweis dafür, dass man eben nicht mit einer Blockbuster-Strategie langfristig überleben kann. Die Umsätze der Majors gehen Jahr für Jahr in den Keller, und zwar nicht nur wegen des Internets, sondern weil das Geschäftsmodell, das auf massive Investitionen in konventionelle Vertriebs und Werbemaßnahmen beruht und in dem eine Handvoll Kassenschlager Dutzende von Blindgängern durchschleppen müssen, heute völlig überholt ist.

Kleine Nischenanbieter können vom Long Tail leben wie die Mäuse von Speck. Die Großen können das nicht – aber nicht, weil es nicht geht, sondern weil sie einfach keine Ahnung haben. Ein Vorwurf, den man Frau Elberse leider auch machen muss, jedenfalls so lange sie das Thema nur durch die Brille der Konzernriesen sieht.

Eine Antwort

  1. die longtail-theorie hat doch ihre entsprechung im user based content: “mainstream”-informationen professioneller medienmacher werden ergänzt um eine vielfalt kleiner “user made” informationen. die alte theorie, wonach das user dominated internet für die klassischen medien den tod bedeutet, entspricht der longtail-ansatz mit dem implizierten online-tod von quelle und neckermann.

    fakt aber ist, dass es ein massies vertrauensdefizit gegenüber kleinen informations- und produktanbietern gibt, gegenüber den “nischen”. die nischen sind spannend, aber taugen sie? wird das produkt aus der nische inzwei wochen noch funktionieren? wird es in drei wochen noch hipp sein? wird es in einer woche überhaupt geliefert werden, wie versprochen? führt das glaubwürdigkeitsdefizit der nischen zu einer renaissance des mainstream?

    die chance der mainstream-anbieter liegt gerade in ihrer markenstärke. sie können sicherheit und orientierung bieten in der unüberschaubarkeit der online-vielfalt. das ist wie bei den kassischen medien, nur dass es mainstream-produkt-anbieter leichter haben ihr geschäftsmodell dem neuen internetstandard anzupassen, als dies bei den herstellern flüchtiger informationen der fall ist.

    es wird sich im klassischen produktvertrieb durch das internet in the long run weniger verändern, als wir einst glaubten. einzig die regionalität der nischen wird sich globalisieren. eine tiki-community (mit all ihrem produktbedarf) wird sich im internet auch dann finden, wenn es nur ganz wenige aktive tiki-fans in deutschland gibt. die nische wird global. deswegen müssen der nischen nicht mehr werden.

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