Plattenbesprechung: David Garrett: Virtuoso

Mit vier Jahren erhielt er seinen ersten Fußball. Von seinem Vater. Der war Ballhersteller und Jugendtrainer. Mit fünf Jahren gewann er seinen ersten Pokal mit den G-Junioren. Mit neun Jahren wurde der DFB auf ihn aufmerksam. Mit 13 erhielt er seinen ersten Profi-Vertrag. In jenen Jahren trainierte er Tag für Tag mindestens acht Stunden. Franz Beckenbauer bezeichnete ihn als größten Fußballer seiner Generation. In einem Interview klagte er: „Mir wurde immer alles aufoktroyiert: Was ich spielen sollte, wo ich auftreten sollte, was ich in Interviews sagen und nicht sagen sollte.“ Von Ende Mai 2008 bis April 2010 war er im Guinness-Buch der Rekorde als schnellster Fußballer der Welt eingetragen…

Ach ja – hätte David Garrett im zarten Kindergartenalter keine Geige, sondern einen Fußball unter seinem Weihnachtsbaum gefunden, dann würde sein Wikipedia-Eintrag ungefähr so lauten. War aber nicht. Da lag eine Geige. Und so stand er im Guinness-Buch nicht als schnellster Flügelstürmer – keine Ahnung, ob er mal einen Flügel bespielt hat – sondern als schnellster Geiger der Welt:

„Bei einem Auftritt in der britischen Fernsehshow Blue Peter spielte Garrett den Hummelflug von Rimski-Korsakow fehlerfrei in nur 66,56 Sekunden, das sind 13 Noten pro Sekunde. Seinen eigenen Rekord unterbot er am 20. Dezember 2008 bei der Guinness-World-Records-Show um 1,3 Sekunden mit einer Zeit von 65,26 Sekunden.“

Muss man so schnell spielen? Gewinnt im Konzert, wer als Erster ankommt? Kommt daher der Begriff „Erste Geige“? Jedenfalls wird man vom Publikum geliebt – und von vielen Kritikern verrissen. Jedenfalls polarisiert man. Und jedenfalls muss man sich nicht wundern, wenn die F.A.Z. über einen schreibt: „David Garrett ist der Jörg Pilawa der klassischen Musik“ (F.A.Z. vom 20.11.2011).

Andererseits hat er bislang mehr als drei Millionen Platten verkauft, auf Vinyl und Polycarbodingsda – auf diesen kleinen Silberlingen, die man auf keinem Plattenspieler abspielen kann. Drei Dutzend Gold- und Platinplatten hat er auch gemacht (lassen sich auch nicht abspielen …). Und anders als Pilawa ist Garrett wirklich ein Genie. Er spielte den Teufelsgeiger Paganini ja nicht nur erfolgreich im Film, sondern auch perfekt auf dem Castro, nein, auf der Fidel.

David Garrett – Der Geigenrebell spielt Virtuoso

David Garrett gilt als Geigenrebell. Weil er Crossover macht, also mal Klassik, mal Pop spielt. Und weil Klassik bei ihm immer ein wenig nach Pop klingt. Und umgekehrt. Das muss man nicht mögen. Aber man muss es mal hören. Denn ernst sollte man ihn nehmen. Der Mann ist eben nicht nur ein genialer Handwerker – das Virtuosentum spricht ihm niemand ab, nicht mal ein F.A.Z.-Feuilletonist. Er agiert mit der Musik. Er glaubt an sein Spiel. Und er spielt nicht für sein Publikum, sondern er kämpft sich an der Musik ab. Im Team mit seiner Stradivari. Und meistens gewinnt der Schönling an der Geige. Er ist der Mbappe der Konzerthallen.

Eine absolut typische Garrett-Platte ist Virtuoso von 2011. Dreimal Gold hat er für diese Scheibe bekommen. Und er spielt sich durch typische Arrangements „großer“ klassischer und popularmusikalischer Gassenhauer: es fliegen die Hummeln von Rimsky-Korsakov, es tanzt Bizets Carmen und es kanoniert Pachelbel. Und somewhere erkennt man auch Leonard Bernstein. Jedenfalls wenn man das Tempo des Plattendrehers ein wenig herunterregelt.

Die Aufnahmequalität ist ebenso erhaben, wie die Pressqualität

Kevin Bacon und Jonathan Quarmby haben die Platte im Sommer 2006 im Londoner RAK Studio abgemischt. Quarmby ist ein recht erfolgreicher Pop-Produzent. Zuletzt hat er Leo Stannards „Gravity“ produziert und damit einen äußerst erfolgreichen Spotify-Newcomer zur Geburt verholfen. Er bloggt übrigens auch unter https://www.jonathanquarmby.com/. Absolut lesbar. Clearaudio hat sauber gepresst.

Und was ist genau drauf auf Virtuoso? Das hier:

  • „La Califfa“ (Ennio Morricone) – 2:46
  • „Carmen Fantasie“ (Georges Bizet) featuring Paco Peña, guitar – 4:15
  • „Nothing Else Matters“ (Metallica) – 3:32
  • „Csardas Gypsy Dance“ (Vittorio Monti) – 3:27
  • „Duelling Banjos“ (from the film Deliverance) – 2:11
  • „Pachelbel’s Canon“ – 3:16
  • „Paganini Rhapsody“ (on Caprice 24) – 4:08
  • „Somewhere“ (from Leonard Bernstein’s musical West Side Story) – 3:01
  • „The Flight of the Bumble Bee“ (Nikolai Rimsky-Korsakov) – 1:20
  • „Serenade“ (David Garrett, Franck van der Heijden) – 3:38
  • „Toccata“ (David Garrett, Franck van der Heijden) – 3:50
  • „You Raise Me Up“ (Brendan Graham, Rolf Løvland) – 4:15
  • „Eliza’s Song“ (David Garrett, Franck van der Heijden) – 2:59

Und wer die Partituren partout mitlesen möchte beim Abspielen der Platte, der kann ja die Geschwindigkeit auf seinem Dreher ein wenig heruntersetzen.

Illustrationen © seeyou c. steps / stock.adobe.com

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