Können wir jetzt endlich über die „fiktive Autobiographie“ reden? Ja, wir können. Eine fiktive Autobiographie ist ja so ein eigenartiges Dingens. Piet de Moor tut so, als wäre er Salinger. Das ist auch völlig legitim, da Salinger einerseits ein Profi im Versteckenspiel, andererseits viel zu wichtig ist, um ihm das durchgehen zu lassen. Salinger wurde zwar viel gelesen und man hat viel über ihn geschrieben, er selbst hat aber eigentlich wenig hinterlassen, außer dem Fänger keinen weiteren Roman, gerade einmal 35 Kurzgeschichten und ein paar kleine Erzählungen und eine unbekannte Anzahl von Fragmenten. Über sein Leben ist gar nicht viel bekannt. Es gibt Biographien, aber zu jeder gibt es eine größere Zahl Gegendarstellungen.
Piet de Moor schreibt also so, als wäre er Salinger. Dabei bemüht er sich – zum Glück – gar nicht die überbordende Gossensprache Salingers zu übernehmen. Er schreibt nicht gerade wie Thomas Mann, aber eben auch nicht wie Salinger, eher wie Piet de Moor, und der ist gelernter Journalist. Das ist erfrischend.
Vor allem ist er offenbar arg belesen. Wer da alles in diesem Buch auftaucht: Stephan Heym, Anna Seghers, Oskar Maria Graf, Hemingway, J.F. Kennedy, Henry Kissinger – mit letzterem fährt Salinger im Buch einmal mit dem Auto von Gunzenhausen ins nahe Ansbach. Das ist historisch immerhin möglich. Der gebürtige Fürther Kissinger war damals ebenfalls als US-Militärmission im Fränkischen unterwegs. Was davon nun alles historische Fakten und was davon alles historische Möglichkeiten sind weiß der Autor und der Teufel. Mir ist es auch gleich. Es passt und liest sich spannend. Vieles ist nachweislich historisch dokumentiert, etwa die Rolle des Gunzenhausener Fotografen Curt Biella, der für die örtliche „Judenkartei“ alle jüdischen Mitbürgerinnen und Mirbürger ablichtete. Die Sammlung existiert noch. Ob freilich Salinger ein Fan der in der Nazi-Zeit angesiedelten Kriminalrome von Philip Kerr war, wie Piet de Mor unterstellt – keine Ahnung. Schöne wäre es allemal. Ich mag Kerr ja auch …
Und Sprache kann de Moor auch, etwa wenn er den jungen Salinger darüber nachdenken lässt, dass man im Deutschen nicht von Morgenröte spricht, sondern vom „Morgengrauen“ und dass spitze Hemdkragen „Vatermörder“ genannt werden. Bis zu dem Grauen im KZ sei es da ja nicht mehr weit …
Seine Schilderung der Gunzenhausener Nachkriegsbürger – alles verkappte Widerstandskämpfer – ist so furchtbar wie sozialmedialer cat-content einer überfahrenen Straßenkatze. Der „widerlich intelligente Filmfanatiker“ und „Kenner der Leinwandkunst“ Johann Hirtz etwa: „Er erinnert mich an das Portrait von Oscar Wilde, wie es Toulouse-Lautrec gemalt hat: aus einem ektoplasmatischem Brotteig geknetet, ein auslaufender Wasserkopf“. Er war der Betreiber des Gunzenhausener Kinos, in dem zwölf Jahre lang die Filme des „geschäftstüchtigen, schafsgesichtigen Heinz Rühmann“ gezeigt wurden. Ich lese solche Dinge mit Wonne …
Aber gerade am Beispiel dieses Hirtz zeigt de Moor alias Salinger auch die Doppelmoral Amerikas auf, indem er darauf verweist, dass Nazi-Deutschland bis zum Kriegseintritt der USA Ende 1941der größte Auslandsmarkt für die Filmindustrie Hollywoods war. Aus diesem Grund gab es bis dahin in den Leinwandschinken aus Los Angeles auch keine bösen Anspielungen auf Nazi-Deutschland.
Und diese Doppelmoral findet schon bald nach dem Krieg eine eifrige Fortsetzung. Piet de Moor lässt Salinger darüber verzweifeln, dass der Film Casablanca in der deutschen Fassung hoffnungslos verhunzt auf den Markt kam: Aus dem tschechischen Widerstandsführer Victor László war ein norwegischer Wissenschaftler geworden, der nicht mehr aus einem deutschen KZ, sondern aus einem Gefängnis geflohen war. Aus den Nazis waren Industriespione geformt worden. Die Nazi-Offiziere, die in der Original-Version des Films die „Wacht am Rhein“ brüllten, wurden in der deutschen Fassung schlicht herausgeschnitten. Und während Rick die hübsche Ilsa am Ende als Sinnbild dafür ziehen lässt, dass der Kampf gegen den Faschismus wichtiger ist, als das persönliche Glück, bleibt die Botschaft des Films in der deutschen Fassung so nebulös, wie die Stimmung auf dem Flugfeld. Ich liebe diesen Film und ich liebe diese kritische Reflexion von Piet de Moor – auch wenn sie nicht wirklich neu ist.
Ganz wunderbar auch die Stelle über die sich verändernde Schuhmode in Nazi-Deutschland. In den dreißiger Jahren verschwand in Gunzenhausen – und anderswo in deutschen Gauen – der Halbschuh: „Der Lederstiefel kam in Mode. Sohlen und Absätze mussten mit Nägeln beschlagen sein … Ehe man das Rudel sah, musste man es ankommen hören. Das gehörte zur Einschüchterungsstrategie. Jeder ‚männliche Mann‘ trabte wie ein beschlagener Gaul durch die Gegend. Die SA nannte ihren eisernen Tritt ‚den Stoß‘. … Weil ihre Stiefel auch eine Waffe waren. Sie traten ihre Gegner damit zu Brei.“