Piet de Moor Gunzenhausen

Piet de Moor: Gunzenhausen. Das Leben des J.D. Salinger, von ihm selbst erzählt – Eine Buchvorstellung

„Wie ich auf einem mächtigen, namenlosen Strom herumgondele …, in dem die Nebenflüsse Altmühl, Themse, Avon, Delaware, Hudson, Oder, Tajo, Charles River, Donau und Connecticut münden …“ – so hin und her geschaukelt wurde ich von Piet de Moor beim Lesen seines Buches über die Jahre, die J.D. Salinger im mittelfränkischen Gunzenhausen verbrachte. Wie verwegen muss einer sein, der meine kleine heimatliche sumpfig romantische Altmühl in einem Satz mit dem Hudson River und der Themse zu mäandern sich wagt?

Ihr wisst nicht, wo dieses Gunzenhausen liegt? Man findet es unter 49° 7′ N, 10° 45′ O Koordinaten: 49° 7′ N, 10° 45′ O. Gunzenhausen ist ein Städtchen mit rund 17.000 Einwohnern in Westmittelfranken, gelegen an Altmühl, Wurmbach und Hambach. Die Ortsteile tragen Namen wie Oberhambach und Unterhambach, Oberwurmbach und Unterwurmbach, oder auch schlicht Wald und Steinacker.

Gunzenhausen liegt 25 Kilometer entfernt vom mittelfränkischen Regierungssitz Ansbach, meiner Heimatstadt und beide Städte verbindet eine tiefbraune Vergangenheit. Sie waren vor hundert Jahren der fruchtbare fränkische Nährboden der NSDAP. Schon im April 1933 wurde in Gunzenhausen das angeblich erste Hitler-Denkmal im Deutschen Reich errichtet. Am Palmsonntag 1934 beteiligten sich rund tausend brave Gunzenhausener Bürgerinnen und Bürger an einem antisemitischem Pogrom, in dessen Verlauf zwei jüdische Einwohner ermordet wurden. Der Schriftsteller W.G. Sebald berichtet in „Die Ausgewanderten“ von diesem Pogrom, das sogar in der internationalen Presse seinerzeit Beachtung fand. Überhaupt wäre Gunzenhausen ohne seine Nazis heute international kaum von Bedeutung. Und weil ich es ja hier mit Lesenden zu tun habe: Wer mehr über das „mittelfränkische Herz der Finsternis“ , also Gunzenhausen in und nach der Nazi-Zeit erfahren möchte, dem sei das Buch „Heimat“ von Thomas Medicus“ anempfohlen, erschienen 2014 bei Rowohlt.

Medicus Heimat

Salingers „Fänger im Roggen“ und das „mittelfränkische Herz der Finsternis“

Nach 1945 gab es keine Nazis mehr in Gunzenhausen. Gunzenhausener wissen das. Literaturwissenschaftler, die Salingers großen Roman „Fänger im Roggen“ vergeblich zu interpretieren versuchten, scheiterten stets daran, dass sie dies schlichterdings nicht wussten.
Sein „Fänger im Roggen“ ist 1951 erschienen. In ihm berichtet der protagonist, der sechzehnjährige psychisch angeschlagene Holden Caulfield von mehr oder weniger irren Erlebnissen an drei Tagen in seinem noch jungen Leben. Hier ist nicht der Platz dieses wunderbare Buch vorzustellen (warum eigentlich nicht ???), im Wesentlichen verarbeitet Salinger in diesem Roman die üblichen seelischen Nöte eines pubertierenden Jugendlichen: sexuelle Desorientierung, soziale Desorientierung, psychische Desorientierung. Der Kopf eines jungen Menschen ist der ideale Ort, um die realen gesellschaftlichen Widersprüche in all ihrer Grobheit und Gemeinheit aufzuzeigen. Und das tut Salinger mit Hingebung und einer Drastigkeit, die zu Beginn der fünfziger Jahre für die lesende Welt noch eine echte Zumutung war und für viele noch heute eine fiese Zumutung darstellt. Kaum ein Buch wurde intensiver und vielfältiger zensiert als der „Fänger im Roggen“, kaum ein Roman wurde widersprüchlicher interpretiert.

Salinger Fänger im Roggen

Verfasst hat Salinger das Manuskript unmittelbar unter dem Eindruck seiner Erlebnisse im und nach dem Krieg. Er war gerade einmal 23 Jahre alt, als er 1942 in die US Army eintrat. Seine Entscheidung für das Militär wurde vermutlich nicht unwesentlich durch eine unglückliche Frauengeschichte beeinflusst. Salinger war kurz vor seinem Eintritt in die Armee von seiner großen Lebensliebe verlassen worden. Oona O’Neill hatte ihn wegen einem anderen Mann verlassen. Sein Nebenbuhler war Charles Chaplin. Ihn heiratete sie später auch. Salinger schätzte Chaplin übrigens nicht sonderlich …

Salingers Kriegserfahrungen, vor allem die Schlacht im Hürtgenwald bei Aachen – dort begegnete er vermutlich Ernest Hemingway, der gerade als Kriegsreporter unterwegs war – und die Befreiung des KZ-Außenlagers Kaufering IV erschütterten Salinger nachhaltig. Nach Kriegsende arbeitete Salinger, der perfekt Deutsch sprach für den US-Militärgeheimdienst in Gunzenhausen. Seine Erlebnisse in diesem fränkischen Kaff an der Altmühl, verwoben mit den traumatischen Kriegserlebnissen, bildeten letztlich den Fond für seinen großen Roman „Fänger im Roggen“.

Piet de Moor: Gunzenhausen

Können wir jetzt endlich über die „fiktive Autobiographie“ reden? Ja, wir können. Eine fiktive Autobiographie ist ja so ein eigenartiges Dingens. Piet de Moor tut so, als wäre er Salinger. Das ist auch völlig legitim, da Salinger einerseits ein Profi im Versteckenspiel, andererseits viel zu wichtig ist, um ihm das durchgehen zu lassen. Salinger wurde zwar viel gelesen und man hat viel über ihn geschrieben, er selbst hat aber eigentlich wenig hinterlassen, außer dem Fänger keinen weiteren Roman, gerade einmal 35 Kurzgeschichten und ein paar kleine Erzählungen und eine unbekannte Anzahl von Fragmenten. Über sein Leben ist gar nicht viel bekannt. Es gibt Biographien, aber zu jeder gibt es eine größere Zahl Gegendarstellungen.

Piet de Moor schreibt also so, als wäre er Salinger. Dabei bemüht er sich – zum Glück – gar nicht die überbordende Gossensprache Salingers zu übernehmen. Er schreibt nicht gerade wie Thomas Mann, aber eben auch nicht wie Salinger, eher wie Piet de Moor, und der ist gelernter Journalist. Das ist erfrischend.

Vor allem ist er offenbar arg belesen. Wer da alles in diesem Buch auftaucht: Stephan Heym, Anna Seghers, Oskar Maria Graf, Hemingway, J.F. Kennedy, Henry Kissinger – mit letzterem fährt Salinger im Buch einmal mit dem Auto von Gunzenhausen ins nahe Ansbach. Das ist historisch immerhin möglich. Der gebürtige Fürther Kissinger war damals ebenfalls als US-Militärmission im Fränkischen unterwegs. Was davon nun alles historische Fakten und was davon alles historische Möglichkeiten sind weiß der Autor und der Teufel. Mir ist es auch gleich. Es passt und liest sich spannend. Vieles ist nachweislich historisch dokumentiert, etwa die Rolle des Gunzenhausener Fotografen Curt Biella, der für die örtliche „Judenkartei“ alle jüdischen Mitbürgerinnen und Mirbürger ablichtete. Die Sammlung existiert noch. Ob freilich Salinger ein Fan der in der Nazi-Zeit angesiedelten Kriminalrome von Philip Kerr war, wie Piet de Mor unterstellt – keine Ahnung. Schöne wäre es allemal. Ich mag Kerr ja auch …

Und Sprache kann de Moor auch, etwa wenn er den jungen Salinger darüber nachdenken lässt, dass man im Deutschen nicht von Morgenröte spricht, sondern vom „Morgengrauen“ und dass spitze Hemdkragen „Vatermörder“ genannt werden. Bis zu dem Grauen im KZ sei es da ja nicht mehr weit …

Seine Schilderung der Gunzenhausener Nachkriegsbürger – alles verkappte Widerstandskämpfer – ist so furchtbar wie sozialmedialer cat-content einer überfahrenen Straßenkatze. Der „widerlich intelligente Filmfanatiker“ und „Kenner der Leinwandkunst“ Johann Hirtz etwa: „Er erinnert mich an das Portrait von Oscar Wilde, wie es Toulouse-Lautrec gemalt hat: aus einem ektoplasmatischem Brotteig geknetet, ein auslaufender Wasserkopf“. Er war der Betreiber des Gunzenhausener Kinos, in dem zwölf Jahre lang die Filme des „geschäftstüchtigen, schafsgesichtigen Heinz Rühmann“ gezeigt wurden. Ich lese solche Dinge mit Wonne …

Aber gerade am Beispiel dieses Hirtz zeigt de Moor alias Salinger auch die Doppelmoral Amerikas auf, indem er darauf verweist, dass Nazi-Deutschland bis zum Kriegseintritt der USA Ende 1941der größte Auslandsmarkt für die Filmindustrie Hollywoods war. Aus diesem Grund gab es bis dahin in den Leinwandschinken aus Los Angeles auch keine bösen Anspielungen auf Nazi-Deutschland.

Und diese Doppelmoral findet schon bald nach dem Krieg eine eifrige Fortsetzung. Piet de Moor lässt Salinger darüber verzweifeln, dass der Film Casablanca in der deutschen Fassung hoffnungslos verhunzt auf den Markt kam: Aus dem tschechischen Widerstandsführer Victor László war ein norwegischer Wissenschaftler geworden, der nicht mehr aus einem deutschen KZ, sondern aus einem Gefängnis geflohen war. Aus den Nazis waren Industriespione geformt worden. Die Nazi-Offiziere, die in der Original-Version des Films die „Wacht am Rhein“ brüllten, wurden in der deutschen Fassung schlicht herausgeschnitten. Und während Rick die hübsche Ilsa am Ende als Sinnbild dafür ziehen lässt, dass der Kampf gegen den Faschismus wichtiger ist, als das persönliche Glück, bleibt die Botschaft des Films in der deutschen Fassung so nebulös, wie die Stimmung auf dem Flugfeld. Ich liebe diesen Film und ich liebe diese kritische Reflexion von Piet de Moor – auch wenn sie nicht wirklich neu ist.

Ganz wunderbar auch die Stelle über die sich verändernde Schuhmode in Nazi-Deutschland. In den dreißiger Jahren verschwand in Gunzenhausen – und anderswo in deutschen Gauen – der Halbschuh: „Der Lederstiefel kam in Mode. Sohlen und Absätze mussten mit Nägeln beschlagen sein … Ehe man das Rudel sah, musste man es ankommen hören. Das gehörte zur Einschüchterungsstrategie. Jeder ‚männliche Mann‘ trabte wie ein beschlagener Gaul durch die Gegend. Die SA nannte ihren eisernen Tritt ‚den Stoß‘. … Weil ihre Stiefel auch eine Waffe waren. Sie traten ihre Gegner damit zu Brei.“

Lese-Tipp „Gunzenhausen. Das Leben des J.D. Salinger, von ihm selbst erzählt“

Indem Piet de Moor die Gesprächspartner Salinger den Nazi-Alltag erklären lässt, erklärt er ihn uns. Was also ist über „Gunzenhausen. Das Leben des J.D. Salinger, von ihm selbst erzählt“ zu sagen? Es ist ein großartiges Buch. Es ist unterhaltsam und verstörend wie ein J.D. Salinger. Es ist lehrreich wie ein Piet de Moor. Es ist eine Leseempfehlung von Czyslansky. Wallstein Verlag. Beim Buchhändler Deines Vertrauens. Und wenn der schon aufgegeben hat, dann eben bei buch7.de.

Illustrationen © Michael Kausch

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