Mein Reisetipp für Berlin: Die Ausstellung „Erfindungswahn! Das Segelluftschiff des von Tarden'“ im Museum der Berliner Charité

Der Wahnsinn wurde verlängert. Genauer: Die ganz wunderbare Sonderausstellung „Erfindungswahn! Das Segelluftschiff des ‚Ingenieur von Tarden’“ im Museum der Berliner Charité wurde bis zum 19. April 2026 verlängert. Höchste Zeit also für einen Trip in die deutsche Hauptstadt und einen Besuch der Charité. Es lohnt sich unbedingt.

Eine Ausstellung über den „Erfindungswahn“ in Zeiten der industriellen Revolution

Um was geht es? Zitieren wir direkt aus der Ausstellung: „Um 1900 war der Ingenieur der Mann der Stunde! Die technischen Erfindungen in den Bereichen Transport und Kommunikation erweiterten den Horizont des Machbaren. Die Dampfschifffahrt, die Eisenbahn, das Automobil und die Telegrafie veränderten die Wahrnehmung von Raum und Zeit, von Nähe und Distanz.“

Um das Jahr 1900 standen die zahlreichen Erfinder und die leider etwas weniger zahlreichen Erfinderinnen in den Patentämtern Schlange. Ein paar Beispiel gefällig? Gerne:

  • 1895 Alexander Stepanowitsch Popow: Radio-Antenne
  • 1895 Wilhelm Conrad Röntgen: Röntgenstrahlung
  • 1895 Charles Sangster: Fahrrad
  • 1895 Max Skladanowsky: Bioskop
  • 1896 Paul Schmidt: Trockenbatterie
  • 1898 Valdemar Poulsen: Tonbandgerät
  • 1898 Alberto Santos Dumont: Luftschiff
  • 1899 Heinrich Scheele: Elektroautomobil
  • 1899 Gustav Weißkopf: Motorflugzeug (der kommt aus Leutershausen bei Ansbach; der steht hier weil ich da her komm und er VOR den Gebrüdern Wright das flog 😉)
  • 1899 Johan Vaaler: Büroklammer (mit irgendwas muss man die Patentschriften ja zusammenhalten)
  • 1900 Nikola Tesla: Tesla-Turbine
  • 1903 Ira W. Rubel: Offsetdruck

Kein Wunder, dass angesichts solch geballter Intelligenz im Jahr 1912 ein gewisser William Stern auch noch den Intelligenztest erfand.

Alle Augen richteten sich gegen den Himmel

„Der visionäre Blick vieler richtete sich in den Himmel, wo dem Träumen keine Grenzen gesetzt waren – und zahlreiche Ideen für Erfindungen erreichten das Berliner Patentamt. … Und ost war es die soziale Not, die diesen Traum speiste. Doch wie im Mythos des Ikarus drohte dem Übermütigen der Fall. Mit dem `Erfindungswahn´- einer Diagnose der Zeit – verwiesen die Psychiater auf die Kehrseite dieser gesellschaftlichen Euphorie.“

Und damit kommen wir nun endlich zur Ausstellung. Denn hier geht es um das Segelluftschiff des ‚Ingenieur von Tarden‘. Aber wir sind nicht im Technikmuseum, sondern in der Charité. Und der Ingenieur war kein Techniker, sondern ein Irrer. Denn genau darum geht es in dieser Ausstellung: um die innige Verbundenheit von Genie und Wahnsinn.

Im Zentrum der Ausstellung stehen Fragmente der Krankengeschichte des Patienten A.R., der am 14. Januar 1909 in die Psychiatrische Klinik der Charité aufgenommen wurde. Zu studieren sind zahlreiche Dokumente, verfasst von Ärzten und medizinischen Mitarbeitenden der Klinik, aber auch Schriften des Patienten. Dieser gab sich während seines mehrjährigen Aufenthalts in der Charité den Titel und Namen Ingenieur von Tarden und entickelte mehrere Modelle von Luftschiffen, die stark den Vorbildern des Grafen von Zeppelin ähnelten. Allerdings waren von Tardens Modelle vom Wind angetrieben, was waren „Segelluftschiffe“.

Dominiert wird die Ausstellung von der Rekonstruktion eines großen Modelles eines solchen Segelluftschiffs. Das original hatte von Tarden gemeinsam mit seinen Pflegern 1909 erbaut.

Mit seinen Erfindungen wollte der Patient nicht nur der Klinik entfliehen, sondern sich zugleich unsterblich machen. Er zeichnete auch ein Denkmal, das der Bedeutung seiner Erfindung und seiner Person für den Weltluftverkehr würdig sein sollte.

Mich hat das Schicksal von Tardens sofort an den Schneider von Ulm erinnert, jener historischen Figur, der Anfang des 19. Jahrhunderts mit Adlerfedern an den Armen in Ulm Flugversuche unternommen hat. Im Jahr 1811 kam er bei einem seiner Flugversuche ums Leben. Bert Brecht hat dem Schneider ein literarisches Denkmal gesetzt, das den Zusammenhang von Genie und Wahn, von Innovation und gesellschaftlicher Ignoranz recht gut veranschaulicht:

„Bischof, ich kann fliegen“,
Sagte der Schneider zum Bischof.
„Pass auf, wie ich’s mach‘!“
Und er stieg mit so ’nen Dingen,
Die aussahn wie Schwingen
Auf das große, große Kirchendach.
Der Bischof ging weiter.
„Das sind so lauter Lügen,
Der Mensch ist kein Vogel,
Es wird nie ein Mensch fliegen“,
Sagte der Bischof vom Schneider.

„Der Schneider ist verschieden“,
Sagten die Leute dem Bischof.
„Es war eine Hatz.
Seine Flügel sind zerspellet
Und er lag zerschellet
Auf dem harten, harten Kirchenplatz.“
„Die Glocken sollen läuten,
Es waren nichts als Lügen,
Der Mensch ist kein Vogel,
Es wird nie ein Mensch fliegen“,
Sagte der Bischof den Leuten.

Je nun, der Schneider ist verschieden, der Bischof aber auch. Vom Schneider spricht man heute noch, vom Bischof spricht kein Mensch mehr. Und fliegen kann sich heute jeder Schneider leisten. Manchmal muss man seine Träume leben und daran sterben, damit andere die Träume später in Realitäten umsetzen können. In diesem Sinne war Ingenieur von Tarden vielleiht weniger verrückt in seinem Kuckucksnest, als manche der heutigen Besucher dieser wunderbaren Ausstellung. Ein Besuch lohnt. Unbedingt.

Übrigens: Aktuell gibt es eine weitere aktuelle Sonderausstellung im Museum der Charité: „SCHLEIM. Geheimnisse einer unterschätzten Körperflüssigkeit“. Ich habe diese Ausstellung noch nicht gesehen, aber auch sie klingt vielversprechend: „Schleim ist enorm vielseitig, etwa als Gleitmittel, Klebstoff oder Schutzbarriere im Körperinneren. Seine scheinbar simple Struktur macht Schleim wandlungsfähig und damit unersetzlich für viele Körperfunktionen. … Wir betrachten Schleim mit ambivalenten Gefühlen. Beim Sex stört er eher nicht, zieht jemand den Schleim wieder in die Nase hoch, finden wir das eklig. In dieser Ausstellung folgen wir ganz unterschiedlichen Schleimspuren – biologisch, historisch, kulturell – und decken die Geheimnisse dieser unterschätzten Körperflüssigkeit auf.“

Das Berliner Medizinhistorische Museum in der Charité ist eines meiner absoluten Lieblingsmuseen.

Illustrationen © Michael Kausch

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