„Der visionäre Blick vieler richtete sich in den Himmel, wo dem Träumen keine Grenzen gesetzt waren – und zahlreiche Ideen für Erfindungen erreichten das Berliner Patentamt. … Und ost war es die soziale Not, die diesen Traum speiste. Doch wie im Mythos des Ikarus drohte dem Übermütigen der Fall. Mit dem `Erfindungswahn´- einer Diagnose der Zeit – verwiesen die Psychiater auf die Kehrseite dieser gesellschaftlichen Euphorie.“
Und damit kommen wir nun endlich zur Ausstellung. Denn hier geht es um das Segelluftschiff des ‚Ingenieur von Tarden‘. Aber wir sind nicht im Technikmuseum, sondern in der Charité. Und der Ingenieur war kein Techniker, sondern ein Irrer. Denn genau darum geht es in dieser Ausstellung: um die innige Verbundenheit von Genie und Wahnsinn.
Im Zentrum der Ausstellung stehen Fragmente der Krankengeschichte des Patienten A.R., der am 14. Januar 1909 in die Psychiatrische Klinik der Charité aufgenommen wurde. Zu studieren sind zahlreiche Dokumente, verfasst von Ärzten und medizinischen Mitarbeitenden der Klinik, aber auch Schriften des Patienten. Dieser gab sich während seines mehrjährigen Aufenthalts in der Charité den Titel und Namen Ingenieur von Tarden und entickelte mehrere Modelle von Luftschiffen, die stark den Vorbildern des Grafen von Zeppelin ähnelten. Allerdings waren von Tardens Modelle vom Wind angetrieben, was waren „Segelluftschiffe“.
Dominiert wird die Ausstellung von der Rekonstruktion eines großen Modelles eines solchen Segelluftschiffs. Das original hatte von Tarden gemeinsam mit seinen Pflegern 1909 erbaut.
Mit seinen Erfindungen wollte der Patient nicht nur der Klinik entfliehen, sondern sich zugleich unsterblich machen. Er zeichnete auch ein Denkmal, das der Bedeutung seiner Erfindung und seiner Person für den Weltluftverkehr würdig sein sollte.
Mich hat das Schicksal von Tardens sofort an den Schneider von Ulm erinnert, jener historischen Figur, der Anfang des 19. Jahrhunderts mit Adlerfedern an den Armen in Ulm Flugversuche unternommen hat. Im Jahr 1811 kam er bei einem seiner Flugversuche ums Leben. Bert Brecht hat dem Schneider ein literarisches Denkmal gesetzt, das den Zusammenhang von Genie und Wahn, von Innovation und gesellschaftlicher Ignoranz recht gut veranschaulicht:
„Bischof, ich kann fliegen“,
Sagte der Schneider zum Bischof.
„Pass auf, wie ich’s mach‘!“
Und er stieg mit so ’nen Dingen,
Die aussahn wie Schwingen
Auf das große, große Kirchendach.
Der Bischof ging weiter.
„Das sind so lauter Lügen,
Der Mensch ist kein Vogel,
Es wird nie ein Mensch fliegen“,
Sagte der Bischof vom Schneider.
„Der Schneider ist verschieden“,
Sagten die Leute dem Bischof.
„Es war eine Hatz.
Seine Flügel sind zerspellet
Und er lag zerschellet
Auf dem harten, harten Kirchenplatz.“
„Die Glocken sollen läuten,
Es waren nichts als Lügen,
Der Mensch ist kein Vogel,
Es wird nie ein Mensch fliegen“,
Sagte der Bischof den Leuten.
Je nun, der Schneider ist verschieden, der Bischof aber auch. Vom Schneider spricht man heute noch, vom Bischof spricht kein Mensch mehr. Und fliegen kann sich heute jeder Schneider leisten. Manchmal muss man seine Träume leben und daran sterben, damit andere die Träume später in Realitäten umsetzen können. In diesem Sinne war Ingenieur von Tarden vielleiht weniger verrückt in seinem Kuckucksnest, als manche der heutigen Besucher dieser wunderbaren Ausstellung. Ein Besuch lohnt. Unbedingt.