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Literarisches Quintett XI: Tief im Süden: Achternbusch - Graf - Haslinger -Weidermann -Widmer

100 Bücher von 100 Autoren in 100 Tagen habe ich vor einiger Zeit auf der Facebook-Seite von Czyslansky, die damals noch Michael Kausch schreibt hieß, vorgestellt. Jeden Tag ein Buch. Die Resonanz war durchaus groß. Wobei meine Leser*innen vor allen Dingen die Bücher kommentierten, die sie eh schon kannten. Und ich habe unter eine ganze reihe bekannter Autoren und Autorinnen immer wieder auch mal eher unbekannte Schreiberlinge geschmuggelt.

Überhaupt ging es mir immer um Bücher, die mir etwas bedeuten, die ich gerne gelesen habe. Die 100 Autoren sind mein ganz persönlicher Kanon. Und es handelt sich auch nicht um typische Buchbesprechungen oder -vorstellungen, sondern um mal kleinere, mal etwas ausführlichere persönliche Notizen zu meinen Leseerlebnissen.

Aber Facebook ist vergänglich. Vergänglicher jedenfalls als dieses Blog hier. Deshalb habe ich vor einiger Zeit angefangen meine alten Lesenotizen zu sichten ud hier in handlichen Fünferpaketen zu republizieren. 10 dieser Pakete sind bereits erschienen. Man findet sie hier im Kapitel Literatur.  Zuletzt ging es um fünf Bücher von Erich Mühsam, Rafael Chirbes, Shida Bazyar, Lois Pryce und Peter-Paul Zahl. Heute möchte ich fünf Bücher von deutschsprachigen Südländern vorstellen, von den beiden Bayern Herbert Achternbusch und Oskar Maria Graf, dem Österreicher Josef Haslinger und dem Schweizer Urs Widmer. Volker Weidermann, der Fünfte ist eigentlich Hesse, aber er hat ein wunderbares Buch über bayerische Träumer geschrieben und muss hier einfach genannt werden.

Herbert Achternbusch: Der Neger Erwin

Herbert AchternbuschVon Herbert Achternbusch habe ich in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren eigentlich jeden Film gesehen. Immer mit einer Tüte Gummibärchen. Los ging’s schon im Ansbacher Programmkino mit dem „Andechser Gefühl“ und dem „Atlantikschwimmer“ („Du hast keine Chance aber nutze sie“), später dann „Bierkampf“ und „Servus Bayern“. Ab 1979 hab ich dann jeden Film im Schwabinger Leopold-Kino g’schaut: „Der Komantsche“, „Der Neger Erwin“, „Das letzte Loch“, „Der Depp“, „Das Gespenst“. Bis „Heilt Hitler“ 1986 blieb ich ein treuer Achternbusch-Fan, dann war’s irgendwie vorbei.

Die mittlere Phase, vom Komantschen bis zum Gespenst, das waren für mich die besten Jahre. Die Filme entstanden häufig in Wirtshäusern im Süden Münchens und sie wurden getragen von absurden und anarchistischen Dialogen.

Annamirl Bierbichler und Sepp Bierbichler spielten mit und zahlreiche Mitglieder des Freundeskreises und damaligen Stammtisches von Achternbusch. Um 1980 herum hatte ich Kontakt zu einer Frau, die zum Kreis um Achternbusch gehörte. Ich hab’s aber selbst leider nie nach Gauting oder Ambach geschafft. Für die Leber war’s wohl besser so. Ab und an zieh ich mal eines der Filmbücher aus dem Regal und erinnere mich. Bei einem Gummibären.

Oskar-Maria Graf: Das Leben meiner Mutter

Oskar Maria Graf„Oskar Maria Graf: Das Leben meiner Mutter“. Dieses (halb-)autobiografische Buch stand zehn Jahre ungelesen in meinem Regal ehe ich mich in einem virusverflixtem Sommer daran gemacht habe es zu lesen. Spät, aber nicht zu spät.

Der bayerische Bauern-Lederhosen-Sozi Graf erzählt vom Leben seiner Mutter am Starnberger See. Damals, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert, war das noch keine Promi-Gegend, sondern zutiefst katholisch-bäuerliche bayerische Provinz. Ein Land kurz vor der Erdkrümmung. Vielleicht auch kurz dahinter. Graf breitet eine bäuerliche Sittengeschichte aus, ein soziales Sittengemälde. Er zeichnet seine Figuren vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verwerfungen der Industrialisierung Bayerns und der großen Kriege. Das Buch ist eine Anna Wimschneider für Erwachsene. Geschichte von unten. Die Amerikaner nennen es „oral history“. Es könnte auch heißen „Die Lage der pflügenden Klasse in Bayern„. Das Buch für aufgeklärte Bayernversteher.

Josef Haslinger: Opernball

Josef HaslingerIch liebe Oper. Aber erst vor wenigen Jahren war ich zum allerersten Mal im Wiener Opernhaus. Und ich war doch arg überrascht, wie lässig es dort im Vergleich zur Münchner Oper zugeht. Jedenfalls auf den Stehplätzen unter der Kaiser-Loge (in der selbstverständlich ich meinen Platz reserviert hatte; man gönnt sich ja sonst nix). Auf den Stehplätzen reserviert man seine Plätze wie im Fußballstadion mit Schals, die man geschickt in die Balustrade hineinwirkt. Kolossal.Im Nachhinein überkam mich fast ein wenig Mitleid mit den zahlreichen Opfern des Opernballs von Josef Haslinger.

In diesem Roman – der auch zauberhaft brutal mit Heiner Lauterbach verfilmt wurde – überfällt ein rechtsradikales Terrorkommando den Opernball und vergiftet 3.000 Ballbesucher inklusive Bundeskanzler, Bundespräsident und ein paar Minister mit Blausäure.
Georg Kreisler hätte sich den Plot nicht besser ausdenken können. Haslingers Roman freilich ist viel bösartiger und zugleich realistischer als Kreisler je war. Im Roman spielen nämlich auch noch ORF und korrupte Polizei-Obere mit und schließlich übernehmen rechtskonservative Kreise nach Neuwahlen in Wien die Macht. Haideradei, da blitzt die Realität aus allen austriatischen Rattenlöchern.

Der Opernball ist mehr als ein spannender Krimi. Er ist ein Politthriller für Ösi-Fans. Dazu eine Flasche Gemischter Satz und der Abend ist gelaufen …

Josef Weidermann: Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen

Volker WeidermannVolker Weidermann berichtet in seinem 2017 bei Kiepenheuer und Witsch erschienenen Buch „Träumer“ von der Zeit, „als die Dichter die Macht übernahmen“, also von der Zeit zwischen November 1918 und April 1919 in München.

Es ist ein spannend geschriebenes Buch, stilistisch eher eine Reportage und kein Sachbuch. Der Leser wird zum Augenzeugen der Räterevolution und der Tage ihrer Niederschlagung. Er erlebt, was Erich Mühsam, Gustav Landauer und Ernst Toller erlebten. Er ist aber auch dabei, wenn Thomas Mann erst verwundert, dann bewundernd, dann wieder ängstlich aus seiner Münchner Wohnung auf die Straße und dort auf die Barrikaden blickt um sich dann wieder dem Lampenputzen zu widmen … .

Ich möchte die Leserin und den Leser dieses Buchs aber warnen: Weidermann ist ein großartiger Schreiber und Abkupferer – er bedient sich recht frei der Memoiren der Schriftsteller die wirklich dabei waren – und memoriert und coloriert daraus seine eigene bunte Geschichte, aber er interpretiert nicht. Er lässt die Leserin und den Leser wirklich alleine zwischen den Buchdeckeln. Wer die Hintergründe der „Geschichte“ nicht kennt, tritt ein wenig staunend aus ihr heraus und klappt das Buch am Ende zu und denkt sich „Oh, eine spannende Zeit“. Das Buch ist eben kein Geschichtsbuch. Es ist eine Illustration zur Geschichte. Es ist gute Unterhaltung zur Revolution. Es erklärt sie nicht.
Es ist ein Traum über die Träumer.

Urs Widmer: Reise an den Rand des Universums

Volker WeidermannNun möchte ich Euch einen Schweizer Schriftsteller ans Herz legen: Urs Widmer. Neben zahlreichen Hörspielen, Theaterstücken und einigen Sachbüchern sind es vor allen Dingen die Prosa-Werke des 2014 verstorbenen Autors, die ich immer mit großem Vergnügen gelesen habe: „Der Geliebte der Mutter“, „Das Buch des Vaters“, „Indianersommer“ oder auch der völlig großartige „Kongress der Paläolepidopterologen“.

Das Buch um das es heute geht, die „Reise an den Rand des Universums“ beginnt mit dem Satz „Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiographie“ und Ihr ahnt schon, es handelt sich um eine Autobiographie. Widmer berichtet über Erlebtes und Unverarbeitetes aus den dreißig Jahren zwischen seiner Geburt 1938 und 1968, dem Jahr, das nicht ganz zufällig den Schlusspunkt dieses autobiografischen „Romans“ bildet, war dieses Jahr doch eine Zäsur im Leben des Autors, wie auch in der Entwicklung der (west-)europäischen Gesellschaften. In diesem Jahr des großen Umbruchs hat Widmer angefangen zu schreiben. Er wurde Schriftsteller. Er gebar „Alois“, seine erste große Erzählung.
Vielleicht hat mich dieses Buch auch angerührt, weil ich mich in vielen Dingen wiedererkannt habe: in seiner Fahrt nach Paris und nach Südfrankreich, ich habe meine Olivetti-Schreibmaschine in derjenigen des Schriftstellers erkannt und meinen R4 in seinem. Und ich habe mich stets in seinen ein wenig abseitigem irrlichterndem und nicht selten ein wenig arg derbem kalauerndem Humor recht wohl gefühlt.

Wer sich gerne in die seltsam schräge Welt hinter die Spiegel entführen lässt, dem sei Urs Widmer anempfohlen.

Urs Widmer: Lesen! Alles!

Illustrationen © Michael Kausch

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