Ich bin ein Marseillan. Bericht von anderswo.

„Es mag Sie vielleicht überraschen, aber ich bin kein Reisender. Ich halte mehr von Irrfahrten.

Das Blut in meinen Adern fließt, stammt nicht von einer Rasse, aus einem Land oder von einem Boden. Und auch nicht von einer Nation. Eines Tages muss ich all das erklären, und zwar besser, als ich es in meinen Texten vermochte. Indem ich von den Irrfahrten meiner alten Freunde erzähle, die Armenier und Griechen, Spanier und Zigeuner sind, auch sie Söhne von Irrfahrten.“

Anderwo zu sein, ändert alles. Man sieht die Welt anders. Ich meine, dass ich überall zu Hause bin. Selbst in jenen Ländern, deren Sprache ich nicht beherrsche. es genügt mir, einen Reisebericht oder einen Roman eines Schriftstellers zu lesen, um mir sein Territorium und seine Erinnerungen anzueignen. Und schon werde ich zu seinem Zwilling. Dieses Gefühl habe ich zum ersten Mal empfunden, als ich die „Heimkehr nach Tipasa“ von Camus las. Ich fühlte mich als Algerier. Ich hatte Lust Algerien. Später, nicht sehr viel später fand ich mich in Äthiopien wieder. Genau gesagt, in Harar. In Fortsetzung von Rimbaud. Ich war kaum zwanzig Jahre alt. Ich hatte etwas von der Freiheit des Umherirrenden gelernt, die darin besteht, unterwegs zu sein, nicht um zu entdecken, Leute zu treffen und Wissen zu sammeln, sondern um im anderen aufzugehen und in seinen Augen jene „andere Welt“ zu sehen, aus der man kommt. Somit bin ich auch Äthiopier gewesen. Eine Nacht in Kairo bin ich auch Ägypter gewesen. Und Türke mehrere Male. Aber auch Ire, und aus Liebe Argentinier. Es kommt noch oft vor, dass ich Italiener oder Spanier bin. Und wenn ich auch noch in vielen anderen Ländern gewesen bin, so träume ich heute davon, Laote zu sein, manchmal sogar Japaner, und zwar wegen des Schriftstellers Haruki Murakami.

Wie ich gestehen muss, weiß ich manchmal nicht mehr, ob ich in Havanna, auf Bali, in Missoula oder in Schanghai gelebt habe oder ob ich einfach zu viel Cendrars, Hemingway, Luis Sepúlveda, Jim Harrison und James Crumley, Vicki Baum, Stevenson, Melville, Conrad und Mac Orlan gelesen habe, die heute kaum noch jemand liest. All dies ist letzten Endes unwichtig. Das Wahre und das Falsche. Die Fantasiewelt ist eine Realität und manchmal sogar viel realer als die Realität selbst.

Michael Kausch in Marseille

Eine Reise. Urlaub. Für eine bestimmte Zeit.

Mit einem Reiseführer in der Hand und der Rückfahrkarte in der Tasche. Man weiß, dass man von diesem Ufer aufbricht und dass man ganz bestimmt zu ihm zurückkehren wird. In diesem Moment wendet man oft seinen Blick vom Blick des Anderen ab. Und der wird uns fremd. Feindselig. Ein Fremder ist zwangsläufig feindselig eingestellt gegenüber dem Land, der Rasse und der Nation, zu der man sich lautstark bekennt. Ich weiß nicht, ob Sie mich bis hierhin verstanden haben. Ich würde es gern glauben. Und glauben, dass es zu nichts nutze ist, woanders hinzugehen, wenn man sich nicht im Blick des Anderen wiedererkennt. Ich glaube, deshalb sehen die meisten Ferienclubs so aus wie befestigte Lager. Man ist nicht darauf aus, den Anderen zu treffen. Man will nur, was ihm gehört. Sein Meer, seine Strände, seine Kokospalmen.

Marseille hat meine Ausbildung vervollkommnet. Ich weiß, dass es hinter dem Horizont, den ich über dem Hafen sitzend vom Ende der Digue du Large aus betrachte, Cousins und Cousinen mit ihren vielen Kindern gibt. Sie sind immer irgendwo dahinten, aber ich weiß nicht wo. Auf welcher Seite des Stacheldrahts, der Zypern zwischen Griechen und Türken teilt? An welcher hypothetischen Grenze von Ruanda? In welcher Nation von Exjugoslawien? Oder in welchem elenden Lager am Stadtrand?

Wenn ich an sie denke, juckt es in meinen Füßen, ich hole meinen Pappkoffer heraus und träume davon, loszuziehen. Um sie zu treffen und zu teilen, was uns gemeinsam ist: das Glück der Welt. Dieses Glück, das ich verspüre, wenn die Luft stillsteht und ich an heißen Sommertagen in die Haut eines Indigenen schlüpfe, indem ich Louis Owens lese.

Ich träume von weiten Räumen. Ich erfinde den Sinn der Erde neu. Und ich erinnere mich an ein zivilisiertes Volk, das meinte, nur ein toter Indianer sei ein guter Indianer. Dann läuft es mir kalt über den Rücken, denn es ist kalt auf den Wegen ins Exil.“

Ich habe in den letzten Tagen viel Exilliteratur gelesen, von Hans Sahl, einem Deutschen auf der Flucht vor den Faschisten hier in Südfrankreich. Aber ich war auch ein Ire mit Ken Bruen und ein Isländer mit Halldór Laxness. Und mit diesem bei Jean-Claud Izzo dreist gestohlenen Text (aus „Mein Marseille„, erschienen im Unionsverlag) bin ich Marseillan. Und weil ich genau weiß, dass dieser kleine Text ihm sehr gefallen wird, widme ich ihm meinem Freund Klaus Dittrich, der zur Zeit gleich hier „um die Ecke“ wohnt. Pour votre plaisir.

Illustrationen © Michael Kausch

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