Viele, die gerade noch auf Wulff eingeschlagen haben und mit viel Esprit seine Unwürdigkeit mehrfach belegt haben, zeigen nun Symptome post­traumatischer Störung: Zuerst noch der Triumph, endich ist er weg, aber dann eben diese innere Leere, dieses leicht depressive Gefühl, das man immer nach dem unblutigen Absetzen eines Staats­ober­haupts hat. Ja, in Frankreich, damals, nach dem Sturm auf die Bastille, da war das noch anders, weg mit den ab­ge­wirt­schaf­teten Spitzen des Staats und dann den neuen Menschen schaffen.

Ganz so hat das nicht geklappt und so kehren wir alle reumütig wieder an unsere Arbeits­plätze zurück. Stellen die virtuellen Mistgabel und Dreschflegel wieder in den Schrank und verfolgen voll Entsetzen, daß ein Kandidat nach dem anderen absagt. Wirklich geeignete Menschen waren durchaus im Gespräch – sie sagten genauso ab wie die weniger geeigneten. Erstaunlich, daß sich dann doch ein Kandidat gefunden hat – und ein guter noch dazu, einer, den wir schon beim letzten Mal wollten.

Und was passiert als nächstes? Genau: Den wollen einige Leute auch nicht. Einer der Gründe: Er hat es versäumt, die eine oder andere Interessen­gruppe zu bedienen. Schon bei der letzten Wahl hat er es unterlassen, sich bei den LINKEN einzuschmeicheln, die dann erfolgreich dem CDU-Kandidaten Wulff den Steigbügel gehalten haben. Aber dadurch ist er gerade in der Achtung vieler Deutscher enorm gestiegen – und dieses mal ist er auf die Stimmen der LINKEN nicht angewiesen. Zum anderen ist er, altersbedingt durchaus entschuldbar, ein Internet-Analphabet. Ein Email­ausdrucker. Na und? Er kann sich im Gegensatz zu mir vorstellen, daß Vorratsdatenspeicherung etwas bringt und sagt, man müsse prüfen, ob sich dieser Eingriff in Grundrechte lohne und wenn dies der Fall wäre, es unter Umständen auch in Kauf nehmen. Nun, Vorrats­daten­speicherung ist so wirkungslos wie gefährlich und nichts anders würde diese Prüfung ergeben, fertig. „Das Netz“ macht daraus, Gauck befürworte die Vorrats­daten­speicherung und ein weiterer Shitstorm rollt durch das Land. Es ist diese undifferenzierte Skandal­schreierei, die das Netz und seine aktiven Bewohner in Misskredit bringt.

Zitate ohne Zusammenhang

So schwirren nun schon seit Tagen aus dem Zusammenhang gerissene Gauckzitate durchs Netz, ein Aufreger des Tages jagt den nächsten. Manch einer tut so, als ob ein kommender Bundes­präsident einer Meinung sein müsse mit allen Bürgern, insbesondere mit ihm selbst. Dabei scheinen viele schon wieder vergessen zu haben, daß die eigene Meinung eine der Forderungen war, die wir an den nächsten Präsidenten haben. Lieber einer, der sagt, was er denkt, als einer, der zuerst die Meinungs­umfragen interpretiert, um dann irgend­welche Allgemein­plätze von sich zu geben. Damit will ich nicht behaupten, daß ich diffamierende und über Gebühr polarisierende Aussagen eines Bundes­präsidenten gut fände. Aber, es ist mir kein wirklich böses Zitat untergekommen  – spätestens, nachdem ich den Zusammenhang lesen konnte. Und dabei ist er ja noch nicht einmal Bundespräsident, diese Neutralität fordern wir doch erst nach dem Amtsantritt. Dazu muß der Bundes­präsident glaubwürdig bereit sein. Was Alice Schwarzer beispielsweise ungeeignet erscheinen läßt.

Manche nehmen Herrn Gauck übel, daß er bei einer Veranstaltung im Oktober 2011 die Anti­kapitalismus­debatte gering­schätzig als „unsäglich albern“ bezeichnete und der inter­nationalen Protest­bewegung „Occupy“ ein baldiges Verebben vorhersagte. Zu den Stuttgart-21-Protesten äußerte er sich auch: Er warnte vor einer Protestkultur, „die aufflammt, wenn es um den eigenen Vorgarten geht“. Verkehrt? Ich habe da so meine Erfahrungen mit Flughafen­gegnern gemacht, die das trefflich belegen. Und wer sich die bunte Truppe bei Occupy anschaut: Hand aufs Herz, da sind doch auch wirkliche Spinner dabei. Occupy wird es auch nach meiner Überzeugung nicht lange in dieser Stärke geben – aber das muß es auch nicht, solange das Thema in der breiteren Bevölkerung angekommen ist und sich tatsächlich einiges bewegen wird – Mission erfüllt.

Mut

Die Krönung jedoch waren die Reaktionen auf eine Bemerkung von Herrn Gauck über Thilo Sarrazin. Dieser habe mit seinem Buch Mut bewiesen und Themen angesprochen, vor denen sich die Politik meist drücke. Mut also. Ja, was den sonst? Die Dummheit von Menschen, die Herrn Gauck daraufhin eine mangelhafte Distanzierung von Rassismus vorwarfen, ist unglaublich. Unglaublich, aber verdächtig verbreitet. Ein Grund, der Sache etwas nachzuspüren, unabhängig davon, daß in eben diesem Interview genug steht, das als glasklare Distanzierung nicht nur zu Rassismus, sondern auch zu Herrn Sarrazin selbst ausreicht. Zurück zum Mut.

Natürlich ist es mutig, so ein Buch zu schreiben, wie es Herr Sarrazin getan hat. Die Thesen im Buch müssen nicht wahr sein, das Buch muss nicht sympathisch sein, der Autor kein Vorbild. Das alles ändert nichts daran, daß man dafür Mut braucht. Auch der viel geschmähte Ansgar Heveling brauchte Mut für seine Provokationen im Handelsblatt – kein Wunder, daß mir schon wieder die Szene aus „Stirb langsam“ in den Sinn kommt: Mit einem Schild „I hate niggers“ in Harlem rumzustehen – dazu braucht man zweifellos Mut und man muss schnell rennen können. Jim Stark beweist Mut, gespielt von James Dean in „… denn sie wissen nicht, was sie tun“, bei einer überaus dämlichen Mutprobe, bei der gestohlene Autos über eine Klippe gesteuert werden und wer zuerst aussteigt, ist der Feigling. Mut? Klar, das ist mutig und dämlich. Ist Jim Stark ein Vorbild? Ich weiß nicht. Wenn ich sage, daß ich seine Aktion mutig finde, heißt das dann, das ich mich nicht genügend von einem Ritual distanziere, das letztlich zwei jungen Menschen das Leben kostet? Absurd!

Woher kommt nun diese Einstellung, daß Mut immer gut sein muß, das mutige Menschen nur Dinge tun, in denen sie uns Vorbilder sein können? Zu einem großen Teil ist es unsere germanische Sagenwelt, die uns mehr prägt, als uns bewußt ist. Der Held reitet, in schimmernder Wehr, und setzt mutig und mannhaft den Feinden und anderen Gefahren entgegen. Ja, „Held“ und „Mut“ läßt sich nicht trennen. Siegfried tritt mutig dem Drachen entgegen (der ihm nichts getan hat, übrigens) und tötet ihn. In anderen Ländern hätte man darüber eher die Brauen gerunzelt. In dem klassischsten aller klassischen chinesischen Romane, „Die Rebellen vom Liang Shan Po“, beschließt der „Held“ angesichts der feindlichen Übermacht, die Waffen wegzuwerfen und schreiend wegzurennen. Rette sich, wer kann! Nachts schleicht er sich mit seinen Getreuen in das feindliche Lager und tötet die Gegner im Schlaf. Na toll – sehr mutig. Seine Gefährten rühmen jedenfalls seine Klugheit. Oder nehmen wir Odysseus. Den Griechen ist es also zehn Jahre nicht gelungen, Troja einzunehmen. Und was macht er? Er besiegt die Trojaner mit List und wird so zum größten Kriegshelden der Griechen. Später beweist er durchaus immer mal wieder Mut, mehr oder weniger, aber sicher nicht den drachentötenden Mut des Siegfried. Uns hätte aus germanischer Sicht vielleicht am ehesten Ajax zugesagt, nicht Achill, der war ja nicht mutig, eher zickig. Hagen von Tronje hat diesen Mut nicht, als er Siegfried tötet, vielmehr bedient er sich eines feigen Tricks. Bei den Griechen hieße die Siegfriedsage somit vermutlich auch Hagensage.

Was uns der Mut ist, ist also anderen Völkern die Klugheit. Sarrazin hat also wohl mutig gehandelt, aber nicht klug, denn es hat ihn den Job gekostet und ihm mehrere ernstzunehmende Drohungen und einen heftigen Shitstorm eingebracht.

Fazit

Das männliche virtus der Römer ist vom deutschen Mut nicht allzuweit entfernt. Das ist insoweit auffällig, als der mittelhochdeutsche muot noch eher das Temperament und die Gesinnung bezeichnete („Sanftmut“ wäre sonst fast komisch). Sind uns die germanisch-römischen Wurzeln des Mutbegriffs bewußt?  Natürlich nicht. Und was hat das mit Herrn Gauck zu tun? Nun, sein Mut ist vermutlich der international brauchbarere, der, mit dem man in der Welt eher weniger missverstanden wird. Mut ohne die moralische Implikation.

Auch im Inland kann Herr Gauck sich auf die Zustimmung der Mehrheit verlassen – er integriert, er spricht verständlich, es hört sich ehrlich an, rückhaltlos, gebildet, interessant, und ich kann nur sagen: Ich freue mich auf seine Präsidentschaft. Hoffen wir nur auf den Anstand der Kritiker, die berühmten ersten hundert Tage endich einmal Ruhe zu geben, bis sich Herr Gauck in seinem neuen Amt eingelebt hat. Er hat es jetzt schon verdient, für seinen Mut, diese Aufgabe zu übernehmen.

Mut im germanischen Sinne, durchaus.

Bildquelle: Ein Bildschnipsel aus dem Film „Alphaville“,  von mir ein wenig für die Verschwörungstheoretiker aufgepeppt. Nein, das ist nicht Herr Gauck…

4 Antworten

  1. Vergessen wir bitte nicht: Der Bundespräsident ist in Deutschland nur da, um dekorativ zu sein. Er darf an Neujahr das Volk mit Floskeln berieseln und ab und zu eine gedankenschwere Grundsatzrede halten, die alle gleich wieder vergessen.
    Ich liebe dieses Amt. Es ist so überflüssig wie ein Kropf und damit ein perfektes Beispiel für das, was ich gerne die „Helvetisierung der Politik“ nenne. In der Schweiz wissen nicht einmal die Schweizer meistens, wer gerade ihr Staatsoberhauptist (er heißt bei denen „Bundesrat“, und das Amt rolliert). Und siehe da: Die Schweiz blüht und gedeiht. Wahrscheinlich würde bei uns das System auch viel reibungsloser funktionieren, wenn wir Mühe hätten, und die Namen zu merken derjenigen, die bei uns das Sagen haben (wie heißt sie doch gleich nochmal: ‚Merkle‘, ‚Makle‘. ‚Murksle‘?)

  2. Ach Tim: bei uns rolliert der Job doch auch. Meinst du das mit „Helvetisierung“? Sind wir schon helvetisiert? Klingt irgendwie einleuchtend. Schließlich ist es oft ein Kreuz mit unseren Präsidenten.
    Und was den Gauck betrifft: Natürlich ist das ein Konservativer. Die Grünen und die SPD haben den Mann doch vor zwei Jahren nur vorgeschlagen, um die CDU zu ärgern. Nun müssen sie die Kröte schlucken. Hätte Rot-Grün eine Mehrheit gehabt, hätten sie wohl weder Gauck noch eine Frau aufgestellt. Sowas macht man immer wenn man keine Chance sieht oder aber von der alten Zustimmung nicht mehr weg kommt und die Merkel vorführen will.
    Im Übrigen wird der Gauck kein Schlechter:
    Erstens ist er jedenfalls ein überzeugter Demokrat, was man ja auch nicht von jedem unserer verflossenen Präsidenten sagen kann.
    Zweitens fabuliert er pastoral, d.h. ein jeder wird aus seinen Texten das herauslesen können, was er will.
    Und zum dritten ist er nicht der Dümmste und wird vermutlich bei internationalen Auftritten nicht peinlich.
    Was will man mehr?

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