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Foto: Rai`ke
E-Mail-Schreiber nehmen es mit der Wahrheit offenbar weniger genau als Freunde des gepflegten Briefes. Sueddeutsche.de berichtet über ein entsprechendes Experiment, das auf der Konferenz der Acadamy of Management vorgestellt wurde. Allerdings war der Anreiz zur Unwahrheit auch stark. Es ging ums Geld, das die Teilnehmer des Experiments mit einem fiktivien Partner teilen sollten. Sie konnten einen beliebigen Betrag abgeben, mussten aber die Höhe der zu teilenden Summe nennen. Das Ergebnis war eindeutig: Die E-Mail-Schreiber sagten zu 92 Prozent die Unwahrheit, die Briefschreiber nur zu 64 Prozent.
Man soll so etwas nicht verallgemeinern, aber der geneigte Leser fragt sich doch schon, wie wahr die E-Mails sind, die er selbst erhält. Dreht es sich in ihnen um Geld, dürfte sich der experimentell ermittelte Prozentsatz durchaus übernehmen lassen. In anderen Bereichen liegt er wahrscheinlich niedriger, aber immer noch deutlich über Null.
Und warum wird in E-Mails mehr gelogen als in Briefen oder mündlicher Kommunikation? Ganz einfach: Ein Brief wird emotional als Dokument eingestuft, eine E-Mail nicht. Weil Sie (zunächst) nur digital erscheint, wird ihr wahrscheinlich weniger Glaubwürdigkeit attestiert als einem Brief. Man geht mit ihr eher um wie mit dem gesprochenen Wort, das man später zurücknehmen oder als Missverständnis darstellen kann. An Gruppenmails kann man sehr schön erkennen, wie lax mit dem elektronischen Wort umgegangen wird. Da werden Leistungen, Verhalten oder Kommentare von Kollegen öffentlich scharf kritisiert, es werden Worte in die Welt gesetzt, die die Betroffenen verhöhnen oder verletzen. Kurz Kollegen werden vor der gesamten Arbeitsgruppe der Abteilung oder sogar vor Allen (in solchen Unternehmen, wo man Mails noch an alle schicken kann) bloß gestellt. Später, reibt sich der Urheber der ehrabschneidenden Mail ganz verwundert die Augen, wenn er die vielen kritischen Antworten in seiner In-Box liest. Er war sich , wenn er nicht bewusst mobben wollte, einfach nicht darüber im Klaren, dass er üble Nachrede betreibt und den Kollegen mit seiner öffentlichen Kritik in die Enge drängt. Einen „offenen Brief“ hätte er, wenn überhaupt, viel vorsichtiger formuliert. Bei einem Brief wäre er sich darüber im Klaren gewesen, wie viele ihn lesen und wie sehr er sich mit einer öffentlichen Kritik aus dem Fenster lehnt. Wahrscheinlich müssen noch einige Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte ins Land ziehen, bis wir auch emotional begriffen haben, dass auch digital erzeugte Worte nicht rückholbar sind, nur weil sie nicht auf Papier stehen. Erst wenn wir begriffen haben, dass die digitale Welt genauso „gegenständlich“ sein kann wie die analoge, lügen wir wahrscheinlich in E-Mails nicht mehr häufiger als beim Briefe schreiben.

2 Antworten

  1. das ist die ironie des mediums: email gilt als flüchtiges medium und ist doch nachhaltiger als jeder brief auf papier. mich holen heute noch emails ein, die ich vor jahren mal geschrieben habe. bei briefen geschieht mir das nur selten. papier schafft gewicht. aber das ist wohl ein später nachklang unserer urzeitlichen erfahrung mit anschleichenden säbelzahntigern: nur was raschelt nehmen wir ernst.

  2. E-Mails stehen irgendwo zwischen dem bedächtig geschriebenen Brief und dem flüchtig hingesprochenen Telefonat, liegen allerdings tendenziell näher bei Letzerem. Zumal die meisten Leute vergessen, dass man nicht *unbedingt* sofort auf „senden“ klicken muss. Manchmal tut es gut, wenn man die eigene Mail vorher nochmal liest. Aber wer hat heutzutage schon noch so viel Zeit…

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