Etwas vollmundig haben wir am Ostersamstsg festgestellt, es sei bereits alles Erwähnenswerte zu den vorösterlichen Aufregerthemen gesagt worden, aber mittlerweile hat uns die Entwicklung eines Besseren gelehrt: Die Causa Günter Grass nimmt immer bizarrere Formen an. Und wer sich mittlerweile nicht alles zu Wort gemeldet und mehr oder weniger Erbauliches zum Besten gegeben hat. Es wurde ganz offensichtlich doch noch nicht alles gesagt, was gesagt hätte werden können…

Man muss ihn nicht mögen oder seine Meinung teilen – aber man muss ihn reden lassen. Das ist Demokratie! Günter Grass. Bild: Wikipedia User L47

Der israelische Journalist und Historiker Tom Segev spricht im Interview mit Spiegel online von einem regelrechten Empörungswettbewerb und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Wer krakeelt am Lautesten? Und wer nutzt nicht alles geschickt die Zeilen des 84jährigen, um mit seiner lautstarken Erregung sich selbst möglichst medienwirksam und politisch opportun in Szene zu setzen? Denn beim näheren Hinschauen ist die ganze Diskussion doch auch wieder nur eine wunderbare Bühne für alle, endlich mal aus den Kulissen zu treten, im Rampenlicht ihr Verslein aufzusagen und nach Applaus zu hecheln.


Die Kandidatenliste für die Ehre, sich am Originellsten empört zu haben,  reicht dabei vom Zentralrat der Juden über Elie Wiesel, Rolf Hochhuth und Marcel Reich-Ranicki (der sich bezeichnenderweise in der FAZ selbst interviewte) bis zu Israels Innenminister, der Grass nicht nur zur pesona non grata erklären ließ sondern auch die Aberkennung des Nobelpreises forderte. Und selbst der allseits umtriebige deutsche Außenminister Guido Westerwelle hat es sich nicht nehmen lassen, als einziges Mitglied der Bundesregierung seinen liberalen Senf abzusondern. Wie immer stehen seine Chancen, im Wettbewerb nennenswert zu zu punkten, nicht besonders gut.

Derweil wundert sich die Twittergemeinde noch immer, dass sich Grass‘ Gedicht gar nicht reimt. Die vielleicht angemessenste aller Entgegnungen stammt vom Satire-Blog „Postillon“. Dort kolportiert man ein von der UN verhängtes Tinten- und Tabakembargo für Grass. Fast freut man sich, dass es noch immer Kolumnisten und Kommentatoren gibt, die dem ganzen einen gewissen Spaß abgewinnen können.

Je abstruser die Stimmen und die Forderungen, um so wortgewaltiger werden auch die Entgegnungen. Wer schwingt sich nicht plötzlich auf zum Apologeten des vom Bannstrahl getroffenen Literaten – die Ostermärschler, Egon Bahr und viele mehr. Gleichzeitig verzichtet die SPD hasenherzig auf weitere Wahlkampfhilfen von Grass. Welch eine öffentliche Debatte.

Grass hat die vorösterliche  Feiertagsruhe geschickt genutzt und die richtigen Begriffe gewählt, um eine Debatte im Feuilleton und in der Politik anzufachen, die seinesgleichen sucht. Wann hat seit Rolf Hochhuths Stellverteter und Rainer Werner Fassbinders Der Müll, der Tod und die Stadt ein literarisches Werk solch eine solche Reaktion verursacht? Er hat nicht unbedingt errreicht, was er wollte, nämlich eine kritische Sicht auf die Politik des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Aber er hat ein ganz anderes Thema zu einem Flächenbrand verwandelt, dessen Erörterung in Politik und Medien längst überfällig ist. Warum eigentlich darf der Staat Israel – also ein politisches Gebilde – nicht kritisiert werden? Warum wird ein politisches Konstrukt umgehend mit der Zugehörigkeit zu einer Religion gleich gesetzt und jede Staatskritik als „Antisemitismus“ bezeichnet?  So gesehen leistet Grass einen wertvollen Beitrag für den politischen Diskurs, da kann Marcel Reich-Ranicki sich in der FAZ von Frank Schirrmacher (der seinerseits munter das Interview per Twitter zu streuen versucht)  vor Ekel schütteln, so lange er will…

Und es ist noch längst nicht alles gesagt. Wer weiß schon, welche Staatskrise die Zeilen des Dichters noch hervorrufen werden? Es fehlen im Chor noch einige bedeutende Stimmen aus dem Lager der sogenannten Politisch Verantwortlichen. Und darüber hinaus wartet man fast  auf freudig erregtes Dichter-Lob von Mahmud Ahmadinedschad, ein wenig Öl ins Feuer gießen  – das hat er immer schon gut gekonnt…

Es ist also noch Musik drin. Es steht zu vermuten an, dass es noch weitere Wortmeldungen geben wird.  Das macht Czyslanskys Irrtum entschuldbar, wenngleich es noch immer keine Notwendigkeit gibt,  sich kommentierend einzuklinken. Wie könnte ein Freun Czyslansky schließlich etwas Gehaltvolles auf Augenhöhe mit Tom Segev, Rolf Hochhuth, Elie Wiesel, Heribert Prantl, Marcel Reich-Ranicki oder Guido Westerwelle von sich geben?

Man mag das Gedicht nun gelungen finden oder nicht, Grass Meinung teilen oder nicht, unritisch oder kritisch dem Staat Israel gegenüber eingestellt sein oder nicht, sich dem Verdacht des Antisemitismus aussetzen und Grass verteidigen oder ihn verdammen  – erschreckend an dem mittlerweile ausufernden Diskurs ist der vorauseilende Gehorsam, auf bestimmte Reize mit automatisierter Empörung so lange und vor allem so laut zu reagieren, bis jegliche inhaltliche Diskussion obsolet geworden ist. Ein schwaches Bild für denkende Köpfe, für Intellektuelle, Journalisten und Politiker. Aber ein noch schwächeres für die selbst ernannten Gralshüter der Demokratie, zu deren unveräußerlichem Gut noch immer die Meinungsfreiheit und das Recht, selbige zu äußern, gehört. Auch wenn einmal ein alter Mann, der auch nur um sich selbst kreist,  etwas von sich gibt, was man vielleicht nicht hören will!

Das – und nur das – ist es, was Czyslansky stört…

2 Antworten

  1. In der Tat eine traurige Entwicklung. Wie ein Schaf in der Herde (um bei Sigfried Lenz zu bleiben) … es wird heute von allen erwartet der Meinung des Medienmainstreams wie Lemminge zu folgen. Oder der desjenigen der Deine Schecks unterschreibt.

    Wer also Grass Worte nicht bejubelt aber selbstkritisch bezogen auf westliche, politische Standpunkte auch ein paar interessante Aussagen findet, wird sofort in die rechtsextreme und/oder antisemitische Ecke gestellt.

    Kürzlich sah ich das ZDF Interview mit dem iranischen ‚Maulhelden‘. Man kann von ihm halten was man will und sicher ist er kein Mann edler Motive und der Aufrichtigkeit. Dennoch verbietet es sich wohl seine Gedanken verstehen zu wollen und den einen oder anderen Standpunkt neben aller Polemik und Zwecklüge als perspektivisch, aus seiner Sicht korrekt anzuerkennen. Jedenfalls für jeden der noch ein Vorstellungsgespräch plant oder Karriere in der Politik machen will.

    Vielleicht ein Nachteil des Social Internet mit seiner extremen Transparenz. Vom Medien-Meinungsknigge abweichende Meinungen können eigentlich nur noch anonym abgegeben werden. Ein Hoch dem Echtnamenszwang der Social Networks und einigen Politikern, die uns von der unendlich schweren Last der Anonymität im Internet gerne per Zwang befreien möchten.

    Die Wahlen können wir dann in 10 Jahren perfider als in der DDR abhalten. Schicke Plexiglas Sichtwände mit montierter Webcam. Oder einfach öffentliche Wahl via Facebook App.
    Warum überhaupt noch Wahlen, es darf ja per se nur eine einzige Meinung geben, alles andere ist natürlich extremistisch, unproduktiv, zersetzend oder schlicht unnötig.

    Mein Dank für diesen gelungenen Artikel. Ich gehen dann mal in mich um meine Meinung zu Grass zu finden, oder sollte ich die doch besser im Televisionskanal abholen?

  2. Hauptsache Empörung! Empörung ist die Aufmerksamkeit 2.0 oder vielleicht schon 3.0. Vielleicht brauchen wir neben dem „liken“ per Like-Knopf bald noch einen eigenen Empörungs-Button!

    Gerade die, welche in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden drohen, können sich mit einem Empörungsschrei zurück ins Leben rufen. Wie z.B. der Zentralrat, die FDP, Marcel ….

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