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Zerbricht sich Schirrmachers Kopf:
Medienphilosoph Norbert Bolz

Norbert Bolz muß sich nicht dahinter verstecken: Er ist ein kluger Kopf, mit oder ohne Zeitung davor. Der Professor an der TU Berlin ist der Philosoph unter den Medienwissenschaftlern in Deutschland, gefragter Vortragsredner, Feingeist, Vordenker par excellence. Czyslansky und er hätten viel Freude miteinander gehabt.  Für meinen Freund Peter Wippermann vom Trendbüro in Hamburg hat er einen langen und sehr lesenswerten Beitrag zum „Trendtag 2010“ geschrieben zum Thema „Flow Control“ – aber seltsamerweise den Schluss offen gelassen. Ich habe ihn gebeten, den Beitrag für Czyslansky zu Ende zu schreiben, was er gerne getan hat.

Wir eröffnen damit eine lose Reihe von Gastbeiträgen namhafter Autoren, die im Sinne des großen Czyslansky die Zukunft der digitalen Gesellschaft mitgestalten.

Kopf hoch, Herr Schirrmacher!

Um mit der Komplexität der Informationen zu Recht zu kommen, brauchen wir ausreichende Eigenkomplexität. Es gehört zu den großartigsten Einsichten jener Psychologie der optimalen Erfahrung, dass sich Freude von bloßer Lust dadurch unterscheidet, dass sie Komplexität aufbaut. Und die Eigenkomplexität des Menschen – früher hätte man Seele gesagt – speist sich aus ganz anderen Quellen als die Systemkomplexität der Information, nämlich aus Ideen und Geschichten.

Ideen haben nichts mit Information zu tun. Das lässt sich immer dann sehr gut erkennen, wenn jemand versucht, Konfusion durch Infusion von mehr Information beheben. Wer orientierungslos ist, wird durch ein Mehr an Informationen nur noch verwirrter. Hier helfen nur Ideen weiter – oder Geschichten. Natürlich bieten auch Geschichten Information, aber im Kontext und koloriert von Emotion. Deshalb kann man Geschichten nicht algorithmisieren.

Echte Probleme kann man nicht lösen, sondern nur managen. Das unsere lautet Information Overload. Immer mehr wissen wir immer weniger, und über immer mehr wissen wir immer weniger. Das einzig Nachhaltige ist die Ungewissheit. Beschleunigung und Informationsüberlastung sind die modernen Formen der Reizüberflutung. Man kann es auch so sagen: Das zentrale Problem der digitalen Kultur ist der Flaschenhals Mensch. Immer mehr Menschen verzweifeln an der Aufgabe, die eigene Aufmerksamkeit zu managen. Dabei geht es um die so einfach klingende Frage: Was ist wirklich wichtig? Um hier überhaupt zu einer Antwort zu kommen, müssen wir Komplexität reduzieren. Auf der Suche nach Orientierung bieten die neuen Medientechniken Filter, aber am Ende geht es doch um die menschliche Urteilskraft. Das kann man am neuen Wahrnehmungsstil des Zapping sehr gut studieren.

Das Problem des Information Overload ist alt. Und wie wir damit umgegangen sind, war immer von den Leitmedien einer Epoche bestimmt. Wir können sieben (the magical number seven!) Epochen der Mediengeschichte unterscheiden: Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Buchkultur, Massenmedien, Digitalisierung, Vernetzung und BANG Design. Alles beginnt in der Vorgeschichte mit der Mündlichkeit und der allmählichen Entwicklung ihrer Technik der Rhetorik. Eine erste Zäsur in der Mediengeschichte markiert die Erfindung der Schrift – und hier melden sich schon die ersten medienkritischen Stimmen: Platon! Schriftlichkeit mündet dann in die Form des Buches. Aber erst das gedruckte Buch der Gutenberg-Galaxis markiert die zweite Zäsur der Mediengeschichte.

Eigentlich beginnt mit dem gedruckten Buch schon die Ära der Massenmedien, aber wenn wir heute von Massenmedien sprechen, meinen wir natürlich Zeitungen, Zeitschriften, den Rundfunk und vor allem das Fernsehen. Sie sind für uns heute aber keine neuen Medien mehr. Denn zwischen den Massenmedien und der Gegenwart liegt die große Zäsur der Digitalisierung. Die Erfindung des Computers lässt sich in ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung tatsächlich nur mit der Erfindung der Druckerpresse vergleichen. Und in den letzten Jahren konnten wir eine Verschiebung des Interesses von der Informationsverarbeitung zur Kommunikation beobachten: Auf die Digitalisierung folgt die Vernetzung. Auch die finale Etappe lässt sich schon gut beschreiben: BANG Design, das Being Digital, das Verschwinden des Computers in seiner Allgegenwart.

Unsereins ist in der Gutenberg-Galaxis aufgewachsen, aber seit mindestens drei Jahrzehnten einer digitalen Kultur ausgesetzt, die von ihren Vordenkern nach dem wahren Erfinder des Computers „Turing-Galaxis“ genannt wird. Das Buch hat unseren Geist geformt; der Computer formt den unserer Kinder. Orientierung haben wir uns in der Gutenberg-Galaxis von Büchern versprochen. Deshalb war die Kunst des Lesens die eigentliche Lebenskunst. Doch was heißt lesen heute? In Websites kann man sich nicht versenken, und die „Immersion“ in virtuelle Welten hat nichts zu tun mit dem alten Seelenabenteuer des Lesens. Das ist nicht als Werturteil gemeint. Kultur ist ein Nullsummerspiel.

Produziert digitales Lesen digitale Gehirne? Hinter dieser Frage versteckt sich die neueste Gestalt des Kulturpessimismus, der heute vor allem auf Jugendliche zielt, die sich lieber in Computerspielwelten verlieren als Bücher von Schirrmacher zu lesen. Die Spiele bieten eine „Lernumgebung“, die den Nutzer mit Geheimnis, Action und Drama stimuliert. Man muss künstliche Umwelten sondieren und „teleskopieren“, um verborgene Muster und Regeln zu finden. Ein großer Teil der Dramatik steckt also in der Enthüllung der Spielregeln selbst. Das Spiel fragt gleichsam: Wie wird gespielt? Und man lernt die Regeln beim Spielen.

Computerspiele trainieren das Entscheiden und den Umgang mit komplexen Systemen. Mehr als jedes andere Medium fördern sie das Vermögen der Geistesgegenwart, das im Jargon der Kognitionswissenschaften heute „cognitive readiness“ genannt wird. Darüber hinaus lernen die Spieler auf unterhaltsamste Art, visuelle Sprachen und Geschichten als Medien für die Verarbeitung riesiger Informationsmengen zu nutzen. „Edutainment“ ist ein guter Begriff für diese neue Form von Unterhaltung, die Lust an der Komplexität weckt, indem sie den Nutzer künstliche Umwelten sondieren lässt.

Spielen ist also der Königsweg in die digitale Welt. Medienkompetenz gewinnt man nicht durch die Lektüre von Gebrauchsanweisungen, sondern durch den Spaß am Programm. Jedes Erfolgserlebnis markiert eine überschrittene Schwelle in der Mensch-Computer-Interaktion: „Das habe ich gemacht!“ Nur wer mit dem Computer zu spielen weiß, weiß ihn auch als Werkzeug optimal zu nutzen – und das dann mit Spaß.

Nietzsche hat einmal gesagt: Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken. Wenn das zutrifft, dann hat der spielerische Umgang mit Computern eminente Folgen für die Organisation unserer Arbeit. Man arbeitet nämlich mit dem Computer, weil er da ist. Die Funktionslust und die Auslöserwirkung des Geräts führen dazu, dass wir im Umgang mit Computern beginnen, diejenigen Aufgaben zu bevorzugen, die sich mit Computern lösen lassen. Und es ist der Geist der Mathematik, der hier von uns Besitz ergreift. Die neuen computergestützten Medien sind Technologien, in denen sich eine rigorose Mathematisierung der Welt vollzieht. Wort und alphabetische Notation verlieren an Bedeutung, und an die Stelle des Literarischen tritt das Numerische. Zahlen und Figuren sind Chiffren aller Kreaturen.

7 Antworten

  1. Einspruch. Unbedingter Einspruch: Computer und Mathematik haben nur in der Perspektive des Programmierers unmittelbar miteinander zu tun. Im Computer, und erst recht in „computergestützen Medien“ vollzieht sich keine „Mathematisierung der Welt“. Wenn wir uns die wirklich neuen Kommunikationsformen ansehen: Twitter, User Based Content, Virtualisierung von Existenzen oder die spontane Selbstorganisation von Gruppen, alles das hat nichts mit einer Mathematisierung der Welt zu tun, sehr viel aber mit einer geänderten Zeitwahrnehmung und neuen Organisationsformen des Miteinander. Natürlich arbeiten und leben Digital Natives anders, als analoge Blätterer. Und der Übergang in die digitale Gesellschaft wird den schärften kulturellen Wandel seit Gutenberg bewirken. Das Internet aber ist nicht das Ende der Literatur. es ist vielleicht das Ende der Verlage. Das mag und soll sein.

    So viel Richtiges ich Ihren Ausführungen entnehmen darf, so vehement möchte ich doch Ihrer im letzten Absatz formulierten Schlussfolgerung widersprechen.

  2. „Mathematisierung der Welt“ schmeckt mir auch zu sehr nach Schirrmachers Monster-Algroithmen. Einerseits ja, die verwendeten Techniken basieren auf Mathematuk. Und in den Frühtagen des Computers waren die Benutzer auch wirklich gezwungen, wie ein Computer zu denken, um ihn überhaupt bedienen zu können.

    Aber wenn die letzten 10 Jahre je eine positive Veränderung in der Beziehung zwischen Mensch und Computer gebracht habem dann der, dass die digitalen System zunehmend mehr Rücksicht auf die oft irrationalen – und deshalb auch nicht in mathematische Gleichungen oder Algrorithmen erfassbaren – Vorlieben und Verhaltensweisen der Menschen nehmen (können). Und da wir Menschen das gerne haben, wenn unsere Werkzeuge uns immer mehr entgegen kommen und immer intuitiver zu bedienen sind, werden wir uns verstärkt solchen Systemen zuwenden – und uns von anderen, streng rationalistisch und damit menschenfeindlich angelegten Systemen abwenden.

    Google ist nicht deshalb so erfolgreich, weil das System uns beobachtet und ausspioniert, sondern weil es weiter entgegen kommt und unsere Wünsche und Bedürfnisse besser erfüllt als andere. Und sobald ein neues System kommt, das es noch besser kann, werden wir Google ebenso schnell den Rücken kehren, wie wir hingeströmt sind.

    Ein Algorithmus ist nicht anderes als eine in Compuercode gegossene Idee. Aus dem Wettstreit der Ideen heraus ist noch immer jeder positive Schritt in der Menschheitsentwicklung entstanden. Das wird in der digitalen Zukunft auch nicht anders sein.

  3. lieber tim,
    hast du eine neue tastatur? oder eine neue whiskymarke? von der „mathematuk“ bis zu den „algroithmen“ schient es mir, du seist derzeit digital ein wenig überfordert. soll ich dir den schirrmacher machen?

  4. @michael: Nee, ich habe einen iPhone. Hast du schon mal versucht, unfallfrei einen längeren Text auf so ’nem Ding zu tippen. Ich wundere mich, dass man überhaupt verstehen kann, was ich gemeint habe.

  5. @tim. ich möchte wirklich nicht den eindruck erwecken, dass es zwischen dem textverständniss und der orthographie in bezug auf deine ausführungen jemals wie auch immer geartete korrelationen gegeben hätte. nichts liegt mir ferner. das weist du. ich hatte mir wirklich nur zwischenmenschliche sorgen gemacht. wenn du nur mit einem kranken teilchen arbeitest, es dir ansonsten aber gut geht, so bin ich berühigt. alles ist gut.

  6. Ich habe läuten gehört, dass die Metzgerinnung eine eigene Touchtechnologie für Wurstfinger entwickelt. Möglicherweise ist das iPad oder wie es ja jetzt heisst iFlounder nichts anderes, als das iPhone für Menschen mit Klodeckel-Size Händen.

  7. Wer nicht glaubt, dass die Mathematisierung der Welt weiter und weiter fortschreitet, glaubt wohl auch, dass es in „A Beautiful Mind“ um die angebliche Schizophrenie des John F. Nash geht. Der Film sollte ursprünglich ja auch ein anderes Ende haben, aber sie haben das verhindert. Da konnte auch Russell Crowe nichts mehr machen, er hängte seinen Beruf an den Nagel und wurde Gladiator.

    Doch wir fühlen die Zeichen: Im München kann man es derzeit sehen!

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