Manchmal entdeckt man in den Untiefen des Bücherregals kleine Schätze, die man längst vergessen hat. Bücher, die sich irgendwann weggeduckt haben. In der zweiten Reihe versteckt. Hinter irgendein zeitgeistiges und zweitklassiges lautprahlerisches junges Ding. Sie wollen einem gestohlen bleiben. Nur um einen eines Tages plötzlich wieder auf die Füße zu fallen. 

So geschehen mit Urs Widmers „Die gestohlene Schöpfung“. Dabei stehen die anderen Ursianika eigentlich drei Reihen tiefer unter „W“ und belegen dort einen knappen dreiviertel Meter des knappen Raumes. Denn ich schätze Widmer sehr, seine überbordende Phantasie, seinen schrägen Humor, seine Galligkeit und Schärfe. „Der Kongreß der Paläolepidopterologen“ – was für ein begnadeter Irrsinn. „Der Geliebte der Mutter“, was für eine feinsinnig-brutale Abrechnung.

Nun habe ich also „Die gestohlene Schöpfung“ wiederentdeckt. 38 Jahre nach seiner Schöpfung. Und ich habe eine ganz besondere Ausgabe in meinem Regal entdeckt: ein persönliches Vorausexemplar, von Urs Widmer persönlich signiert.

Urs Widmer Signatur

Quasi eine Ersterstausgabe. Es verstecken sich ja so einige Erstausgaben und Exemplare mit Zueignungen in meinen Regalen. Sollten dereinst mal die Möbelpacker kommen um den Haushalt aufzulösen werden sie das Ganze zum Kilopreis verhökern. Sei’s drum.

Urs Widmer Vorausexemplar

Urs Widmer: Die gestohlene Schöpfung

„Die gestohlene Schöpfung“ also ist laut Klappentext ein „modernes Märchen“.  Peter von Becker meinte vor Jahren einmal im Tagesspiegel, es handele sich um einen Reise-Krimi, der nach einer Verfilmung durch Wim Wenders schreie. Mag sein. Auch eine Verfilmung als Krimidreiteiler fürs ZDF durch Herbert Reinecker wäre denkbar (gewesen). So im Stil von Babek oder – noch besser – Der Tod läuft hinterher mit Gerd Baltus.

Der Roman beginnt und endet in Frankfurt am Main. Der Held ist ein verkrachter und unfähiger weil sympathisch versoffener Börsenmakler, der, hätte ihn Widmer nicht schon in deutscher Sprache verfasst, von Harry Rowohlt übersetzt worden wäre. Auf verschlungenen Pfaden der frühen organisierten Computerkriminalität gerät er nach Marseille – es gibt Fischsuppe – und an den Amazonas – es gibt Voodoo-Puppen. Niemand ist der, der er zu sein scheint und es gibt nur einen einzigen Moment, an dem man schon vorher weiß, was auf den nächsten zehn Seiten passiert, da wo die eine Tasche mit dem Geld so aussieht wie die andere Tasche mit den Puppen. Klar, werden sie verwechselt. Das darf ich hier verraten. Das errät eh jede und jeder, der schon mehr als drei Folgen Tatort gesehen hat. Aber sonst: Man sollte nicht mal das glauben, was man vor fünf Minuten gelesen zu haben meint. Widmer ist einfach zu durchtrieben. Die Schweizer haben’s einfach drauf. Der Mann ist ein verwilderter Dürrenmatt.

Der Klappentext zitiert den Autor: „Ich bin zuweilen damit beschäftigt, mir in meinem Kopf drin etwas Schönes vorzustellen, Bäume oder Ozeane oder Luft oder Liebe, weil es da, wo ich wohne, irgendwie nicht immer schön genug ist, zu wenig Bäume und Ozeane und Luft und Liebe.“ So ist es. Wem es auch so geht, der sollte dieses Buch lesen.  Urs Widmer: Die gestohlene Schöpfung. 

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