Plattenkiste

Plattenkiste 16: Erinnerungen in Vinyl

Heute grabe ich ganz tief in meiner Plattenkiste und fische nach Erinnerungen in Vinyl. Memories aus alten Tagen, aus sehr alten Tagen. Nein, keine Kinderschallplatten. Und auch nichts aus Vaters Plattenschrank. Beides war übersichtlich, aber immerhin vorhanden. Und Bestandsreste daraus gibt es noch. Peterchens Mondfahrt und Winnetou. Hans Moser und Heiz Rühmann. Alles noch im Giftschrank. Ganz so wild wird es nicht. Aber wild genug waren die Zeiten, als ich mit den Schmuddelkindern spielte …   

Franz-Josef Degenhardt: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern

„Wenn die Bratendüfte wehen
Jungfrau’n den Kaplan umstehen
Der so nette Witzchen macht
Und wenn es dann so harmlos lacht
Wenn auf allen Fensterbänken
Pudding dampft, und aus den Schänken
Schallt das Lied vom Wiesengrund
Und dass am Bach ein Birklein stund –
Alle Glocken läuten mit
Die ganze Stadt kriegt Appetit –
Das ist dann genau die Zeit
Da frier‘ ich vor Gemütlichkeit!“

Sonntags in der kleinen Stadt – ein ganz alter Song vom guten alten Degenhardt. Von der Schmuddelkinder-Platte. Mein Anspieltipp für den nächsten Sonntagvormittag. Raus mit der Klampfe, raus zu den Schmuddelkindern, runter in die Unterstadt …

Carola: Oh Willy Brandt

Das hier passt zum eben gehörten. Mit dem Namen Sakautzki Karriere zu machen ist nicht einfach. Da belässt man es dann lieber beim Vornamen und tritt als Carola auf. Und am besten hätte sie auch das bleiben lassen. In den 70iger Jahren hat die Berlinerin meines Wissens fünf Singles herausgedrückt. Ich hab nur diese eine von 1973. Und die natürlich auch nur wegen dem unglaublichen Titel „Oh Willy Brandt“. Wer hat jemals einem Politiker so schmachtende Verse gewidmet:

„Oh Willy Brandt, ich bin noch sehr jung. Und Politik ist so schwer.
Parteien und Wahl sind mir egal, doch dich bewundere ich sehr.
Ich träume immer wieder davon,
dass ich dich besuche in Bonn.
Oh Willy Brandt, es ist mir bekannt,
Du bist für Frieden und Freiheit im Land.“

Dazu rumpelt die Melodie, dass es kaum auszuhalten ist. Vor meinem inneren Auge tanzt sich ein kompletter SPD-Parteitag weinbrandtrunken durchs nächtliche Bad Godesberg. Auf anderen Platten singt uns 1974 Carola dann passend „Lover, Lover, Lover“ (ja ja, das ist die deutsche Version von „Lover, Lover, Lover“) und 1978 noch treffender „Nur ein Glas zuviel“ ehe sie ihr Lebenswerk 1982 mit dem Song „Ich steh in der Scheiße“ krönt (erschienen auf der LP „1. Berlin-Folkberg live“). Muss man das alles haben? Neeiiin! Aber das Willy-Liedchen unbedingt. Das ist Zeitgeschichte. Gesungene Sozialdemokratie. Und nein: hier geht es nicht um Politik. Auch nicht um Kunst. Und … äh … eigentlich auch nicht um Musik. Nachtrag (ja, ich bin manchmal nachtragend): Gelesen hab ich noch, dass Carola Sakautzki in den achtziger Jahren gemeinsam mit ihrem Mann Burkhard Lüdtke auch noch den Welt-Hit „Herzilein“ für die „Wildecker Herzbuben“ geschrieben hat. Das Singen hat sie wohl aufgegeben. Immerhin.

Tom Waits: The early years

Nun kommen wir zu etwas vernünftigem. 1991 erschienen, aber 1971 aufgenommen. 20 Jahre mussten wir auf diese Lieder warten. So lange wie auf einen guten Whiskey. Eigentlich gar nicht zu lange. Und gelohnt hat sich die Warterei allemal. Jedenfalls für Freunde eines gepflegten langen Whiskey-Abends mit Tom Waits und Liedern aus seinen frühen Jahren auf seiner Platte mit dem sprechenden Titel „The Early Years“. Im Bild Teil 1 der zweitteiligen Serie. Und was hören wir darauf? „Frank’s Song“ zum Beispiel:

„I had a friend, his name was Frank
He walked on the water and lord he sank
We used to go stag, now he’s got a hag
It looks like Frank’s got a new bag“

Und mit diesem Frank (oder war es Tom?) bin ich schon so oft versunken, meine Güte … Eine gute alte Tradition will es, dass ich mir seine Songs nach einer ordentlichen Party, dann wenn alle Gäste endlich verschwunden sind, bei einem letzten Glas am unaufgeräumten geschundenen Tisch reinziehe und warte ob die Sonne tatsächlich wieder aufgeht. Meistens tut sie es. Nicht immer.
Einige Songs wie den „Ice Cream Man“ oder das wunderhübsche „Hope I Don’t Fall in Love with You“ von der zweiten Scheibe hat Tom später auf „Closing Time“ regulär veröffentlicht. So viele Songs voll Liebe und Kummer und all den Dingen die zwischen diesen beiden Universen hin und her kreuzen und in der Regel mehr als 40 Volumenprozent Inhalt haben.
Was soll ich sagen? Eine schöne Flasche „Pikesville Straight Rye“ und Tom Waits „Early Years I und II“ und dann kann dieser Czyslansky meinetwegen zu machen und die Sonne bleiben wo immer sie bleiben will …

Simon & Garfunkel: Bookends.

1968 haben Paul Simon und Art Garfunkel mit diesem – ihrem dritten – Album endgültig ihren Eintritt ins Universum der Unsterblichen geschafft. Bookends war mehr als kluger Text von Paul Simon vorgetragen mit der Engelszunge von Art Garfunkel. Bookends war auf der A-Seite ein durchkomponiertes Konzeptalbum, wie es 1966 die Mothers of Invention mit „Freak Out!“ und ein Jahr später die Beatles mit „Sergeant Pepper“ gerade erst „erfunden“ hatten. Die Songs erzählen – eingerahmt von „Buchstützen“ – ein ganzes Leben. Nach dem ersten „Bookends Theme“ als Opener startet die Lebensgeschichte mit „Save The Life Of My Child“. Alles dreht sich um die Selbstmorggespinste einer Großstadtjugend. Und dazu spielt, auch das damals sehr innovativ, John Simon auf einem Moog-Synthy. Im dritten Song „America“ gehen zwei Jugendliche auf die Suche nach dem Sinn des Lebens, ein musikalisches Road Movie im Greyhound-Bus durch Amerika. Dass der Sinn „42“ ist, wussten sie noch nicht. Der nächste Song „Overs“ thematisiert die Krise der amerikanischen Mittelstands-Ehe, ehe es dann zur Klangcollage der „Voices of Old People“ und schließlich zur Parkbankidylle der beiden „Old Friends“ und schließlich zum zweiten „Bookends Theme“ geht, das die A-Seite der Platte und die Story des Lebens dunkelgrau beschließt.

Die B-Seite ist, abgesehen vom berühmten „Mrs Robinson“ aus dem Film „The Graduate“ (auf Deutsch „Die Reifeprüfung“) wirklich eine B-Seite mit einer bunten Mischung wild zusammengewürfelter Songs eher mittelmäßiger Qualität, ein musikalisches B-Picture.
Die „Bookends“-Seite aber ist epochal, vom Konzept her ebenso, wie musikalisch. Sie entstand großteils bereits 1967, einige Stücke wurden sogar schon 1966 aufgenommen. Die Idee zum Konzeptalbum entstand bei Paul Simon wohl auch bereits 1966. Da war Sergeant Pepper noch nicht auf dem Markt und der Ball im Wembley nicht drin. Aber das nur nebenbei …
„Preserve your memories / They’re all that’s left you.“ Melancholie pur, ein ganz großes Schwarzweiß-Picture … Bookends wurde am 3. April 1968 veröffentlicht, 24 Stunden vor der Ermordnung von Martin Luther King. Eine bittersüßschwarze Scheibe.

The Hollies: Hollies.

Erinnerung sind ja soooo süß. 1974 haben die Hollies diese Platte auf Polydor veröffentlicht. Kein Geringerer als Alan Parsons zeichnete für die Aufnahmeleitung verantwortlich und die Kult-Grafiker von Hipgnosis gestalteten das Cover. Und tatsächlich wurde das Album mit seinem leicht zuckrigen Harmoniegesang ein formidalber Erfolg und brachte die Band zum ersten Mal seit den Swinging Sixties wieder in die Charts. Bis 1968 waren die Hollies (damals noch mit Graham Nash) ja durchaus eine Größe am britischen Beat-Himmel. Bei mir hing ein Bild der Band auch im präpubertären Jugendzimmer. Na ja, die Musik war so süßklebrig, das Ding pappte ja auch ohne Tesa …

Illustrationen © Michael Kausch

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