Immer wieder kommt einem einmal ein Buch zwischen in die Finger, das einen elektrisiert. „Ein Mann liest Zeitung“, Justin Steinfelds einziger Roman gehört zweifellos dazu. Für mich jedenfalls. Dieses Buch hat mich umgehauen. Ob es daran liegt, dass ich leidenschaftlicher Zeitungleser bin? Dass ich Kaffeehäuser liebe? Dass ich Prag mag? Dass ich eine gewisse Affinität zur antifaschistischen und frailech zur jüdischen Exilliteratur hege? 

Justins Steinfeld schrieb das Buch während seiner erzwungenen Emigration in England wohl irgendwann in den vierziger oder fünfziger Jahren. Erschienen ist das Werk unter dem Titel  „Ein Mann liest Zeitung“ dann erstmals 1984 im „Neuen Malik Verlag“. Dann war es wieder vergriffen um im vergangenen Jahr bei Schöffling & Co. endlich neu aufgelegt zu werden. Und nun bleibt zu hoffen, dass es dem Markt niemals wieder verloren geht.

Wer ist – oder besser war – Justin Steinfeld?  Die wichtigsten Eckdaten: Steinfeld wurde 1886 als Jude in Kiel geboren und starb 1970 in England. Er lebte in den zwanziger Jahren als kommunistischer Journalist in Hamburg und schrieb u.a. für die A.I.Z. und Die Wahrheit. Nach der Machtergreifung durch die Nazis emigrierte er nach Prag, von wo aus der später vor den Faschisten nach England floh. 

In seinem Roman behandelt er das Schicksal der deutschjüdischen Emigranten in Prag am Beispiel der Kunstfigur Leonhard Glanz:

Dieser Leonhard Glanz hat nichts weiter zu tun, als den lieben langen Tag im Kaffehaus zu sitzen, Zeitung zu lesen und über sein Schicksal und das Schicksal der Juden, der Mörder, der Emigranten, der Nazis und der Menschheit nachzudenken. Er erinnert sich an seine ersten Erfahrungen antisemitischer Ressentiments in seiner Jugend in Hamburg, reflektiert das Verhalten seiner jüdischen  Mitbürger, denkt über Gott – gibt es eher nicht – und die Welt – gibt es wohl nicht mehr sehr lange – nach. 

Es gibt keine Handlung im eigentlich Sinn in diesem Roman. Es gibt unzählige Gedankensprünge und kleine zum Teil bitterböse und zumeist geniale  kleine Hirngespinste und gedankliche Konstruktionen vor dem Hintergrund der realen Zeitgeschichte, die immer wieder, zumeist  in Zeitungsartikeln auftaucht: die unglaubliche Geschichte vom Stein der Weisen nach den Schriften von Dschabid Ibn Hajjan, die damals gerade mal wieder durch die Medien geisterte, die sogenannte Sudetenkrise, also der Hitlersche Landraub und Henleins Verrat an der Tschechischen Republik und vieles mehr. Wer sich ein wenig mit der Geschichte jener Jahre auskennt, wer sich ein wenig besser mit der Geschichte der tschechischen Republik und kulturellen Szene auskennt, der wird zahlreiche Deja-vu-Momente erfahren. Wer nicht – auch nicht schlimm. Es tut dem Lesespaß keinen Abbruch. Versprochen. Denn Steinfeld ist ein genialer Fabulierer, der mich ständig an Karl Kraus und Kurt Tucholsky erinnert hat. Nein, drunter will ich ihn nicht handeln. 

Meine Ausgabe des Romans hat zahlreiche Eselsohren, ein untrüglicher Beleg der zahlreichen kleinen abgeschlossenen Kurzgeschichten, die das Buch enthält. Kleine literarische Pretiosen, die man gerne einmal nachschlägt. Man nennt sie auch „Stellen“. Eine solche „Stelle“ findet man schon ganz zu Beginn auf den Seiten 16 und 17. Ich meine die Geschichte vom Hund und dem Wolf, die sich im Tierpark begegnen. „Das Gitter. Das Gitter. Das Gitter. Wer ist davor und wer ist dahinter? „ Am Verhältnis der beiden Tiere zueinander illustriert Glanz alias Steinfeld die Beziehung von Freiheit und Knechtschaft, von Wildheit und Dienerschaft. Die Geschichte ist, wie der Roman,  nicht nur eine Anklage gegen den viehischen Faschismus, gegen den hitlerschen Wolf, sondern auch eine Anklage gegen das Dulden, gegen die Anpassung, gegen die freiwillige Knechtschaft.  Wer denkt da nicht an:

Bidne kelblekh tut men bindn,
un men shlept zey un men shekht.
Ver’s hot fligl, flit aroyf tsu,
is bay keynem nisht keyn knekht.

Oder die wunderbare Geschichte des Scharfrichters Hermann Hutt. „‚Köpfe werden rollen‘, hatte Hitler gesagt. Und am Tage darauf war Hermann Hutt in die Nazi-Partei eingetreten. Er war bis dahin nur Mitglied des Tierschutzvereins gewesen“. Dabei wusste er, dass die Nazis nicht recht hatten. Köpfe rollen nicht. Sie fallen. Er war immerhin Scharfrichter. Von sowas verstand er mehr, als die Nazis. Nein, das ist nicht einfach schwarzer Humor. Das ist fein beobachtet. Das ist die Brutalität der Lebens, die gar nichts mit Ideologie zu tun hat. Und wer die nicht versteht, der versteht auch den Siegeszug des Faschismus nicht. Damals nicht und heute nicht.

Man muss dieses Buch lesen. Justin Steinfeld: Ein Mann liest Zeitung. Erschienen bei Schöffling & Co.  erhältlich im Buchladen um die Ecke. Und wenn es die Ecke nicht mehr gibt, dann bei https://buch7.de, dem sozialen Buchhandel. Sonst nirgends.

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