Unter den 100 Büchern, die ich auf „Michael Kausch schreibt“ vorgestellt habe, befinden sich zahlreiche Werke, in denen die Autoren ihre Erfahrungen und Traumata aus dem Zweiten Weltkrieg aufgearbeitet haben. Und auch wenn ich selbst erst einige Jahre später geboren wurde und meine Kindheit in die sechziger Jahre fällt, so hat mich doch die Nachkriegszeit geprägt und ich erinnere mich noch an Dinge, die heute wie aus einem anderen Jahrtausend scheinen – und es ja tatsächlich auch sind:

In mein Elternhaus kam zwei Mal im Jahr der „Boandlkramer“, der Messerschleifer hielt vor der Tür, der Kohlehändler lieferte uns Kohlen, ab und an kamen fahrende oder wandernde Sänger des Wegs und direkt hinter dem Garten lagerten regelmäßig Sinti und Roma. Wir Kinder durften dann immer das Haus nicht verlassen: „Die Zigeuner stehlen die Kinder“ hieß uns mit ehrlich sorgenvoller Miene die Mutter.

Nicht zuletzt habe ich als Arbeiterkind in jenen Jahren den Wert von Brot auch noch in einer Unmittelbarkeit kennengelernt, in der ich die Erfahrungen von Heinrich Böll sehr wohl nachfühlen kann:

Heinrich Böll: Das Brot der frühen Jahre

Heinrich BöllBei Heinrich Böll geht es mir wie bei Günter Grass: seine frühen Werke sind mit die liebsten.

„Das Brot der frühen Jahre“ entstand schon 1955. Es ist ein Nachkriegsroman. Der Protagonist Walter Fendrich ist ein junger Mann, den der Krieg – wie Böll selbst beschreibt, „zum Wolf“ gemacht hat. Er kämpft im zerstörten Nachkriegsdeutschland ums nackte Überleben, ums tägliche Brot.

Es passiert nicht viel in diesem Buch. Es passiert Alltag: ein bisschen Diebstahl, ein bisschen Hurerei, ein bisschen Mutterliebe, viel Adenauer, viel Hunger, viel katholische Doppelmoral.

Böll schreibt später, dass er in dieser Erzählung sehr viele eigene Erfahrungen aus den Jahren um 1950 herum aufgearbeitet hat. Ich habe dieses Buch als Stimmungsbuch in Erinnerung, als Erzählung, die wie kaum ein anderes die Stimmung der jungen BRD uns Nachgeborenen zu vermitteln weiß. Ohne jenes Brot der frühen Jahre ist die Entwicklung der BRD, der Adenauer-Republik, vielleicht gar nicht zu verstehen. Ein wichtiges und zugleich berührendes Buch vom neben Thomas Mann und Bert Brecht größten deutschen Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. Nun habe ich es mal ausgesprochen.

Peter Härtling: Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung

Peter HärtlingEs ist gar noch nicht so lange her, dass ich dieses Buch gelesen habe: Peter Härtling: „Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung“. Es muss irgendwann im Frühjahr diesen Jahres gewesen sein, während der ersten Corona-Welle. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich auf das Buch gekommen bin. Vielleicht hatte es mit meinem Wien-Besuch Anfang 2020 zu tun. Meine Tochter war gerade in die österreichische Hauptstadt gezogen. Das Buch spielt im Waldviertel, genauer in Zwettl, also rund hundert Kilometer nordwestlich von Wien.

Peter, vierzig Jahre alt, kehrt nach sechsundzwanzig Jahren an den Ort seiner Kindheit zurück und versucht herauszufinden wie das wirklich war, damals, in den letzten Kriegstagen in Zwettl. „Es sei, berichtigt Tante K. mit Erbitterung, alles falsch. So habe es sich nicht zugetragen.“ Peter rekonstruiert eine Phase seiner Kindheit, seine Vater-Sohn-Beziehung an Hand von Gesprächen mit Menschen in Zwettl, mit Verwandten und mit Behörden. Und er erfährt nicht eine Wahrheit, sondern gleich ganz viele Wahrheiten, die einander natürlich alle komplett widersprechen.

Ich weiß ja nicht, wie Eure Erfahrung in Corona-Zeiten war und ist: Mir erging es so, dass ganz viele „alte Bekannte“ sich plötzlich im Frühjahr 2020 bei mir gemeldet haben, Bekannte und „Freunde“ von denen ich seit Jahrhunderten nichts mehr gehört hatte. Offenbar hat die Seuche ihre Lebenswelten so durcheinander gebracht, dass lange Verschüttetes wieder nach oben gespült wurde. Vielleicht war auch plötzlich bei einigen wieder Zeit da, sich zu erinnern und dem Alltag zu entfliehen. Jedenfalls wurden Erinnerungen in ungezählten Telefonaten und E-Mails „nachgeprüft“. Corona hat so manches angezwettlt.

Egal: Es war jedenfalls schön und richtig, dieses Buch von 1973 wieder zu entdecken.

Christoph Meckel: Suchbild Meine Mutter

Christoph MeckelDie Werke Christoph Meckels haben mich seit meiner Jugend begleitet. Dies gilt sowohl für seine Lyrik, als auch für seine Prosa.
Für die #tagesbuch-Reihe hatte ich das „Suchbild Meine Mutter“ ausgewählt, ein Buch, das 2002 erschienen ist. Geschrieben hat er es schon Jahre vorher, noch zu ihren Lebzeiten, veröffentlicht aber erst nach ihrem Tod, aus gutem Grund. Denn es ist eine kalte Abrechnung.

Ich habe meine Mutter nicht geliebt“ lautet der entscheidende Satz. Meckel seziert seine Mutter als Nicht-Liebende und Unnahbare. Er beschreibt sie als hochmütige und herrschsüchtige Frau aus bildungsbürgerlichem Haus, konservativ bis in die steifen Knochen.

Meckel analysiert scharf und unerbittlich, wie es seine Art ist. Eben dies hat mich immer an ihm gereizt. Er war stets ein kühler klarer Kopf.
Ich denke, dass viele Menschen meiner Generation Eltern erlebt haben, die zur Liebe nicht sonderlich befähigt waren. Unsere Eltern haben zu lieben als junge Menschen im Krieg verlernt. Was sie sich einst als Kinder und Jugendliche an Liebesfähigkeit aneigneten, galt dem Führer und erwies sich später als schlimmer Betrug. Wenn Liebe so enttäuscht wird, wie ihre Liebe zu Führer und Vaterland enttäuscht worden war, wie sollte da sich noch einmal ein Raum für Liebe auftun?

Meckels Suchbild ist ein Buch, das Erfahrungen weiterreicht, Erfahrungen, die für die Nachkriegsgeneration in Deutschland wichtig waren und sind. Eben deshalb habe ich dieses Buch hier in die kleine Reihe der Nachkriegsbücher eingereiht.

Nicht verschweigen will ich, dass die meisten Kritiker das „Suchbild Mutter“ arg verrissen haben. Es war ihnen zu eindimensional, ganz im Gegensatz zum älteren „Suchbild. Über meinen Vater“. Meiner Meinung nach verkannten sie, dass Meckel in jenem Buch seine Position zu seinem Vater in der Tat noch suchte und bis zuletzt als widersprüchlich befand. Sein „Mutter-Buch“ ist eine klare Abrechnung. Es ist keine Instandsetzung einer Beziehung, sondern eine Auseinandersetzung. Mir scheint dies legitim. Es ist eine finale Abrechnung mit den Nachkriegsmüttern!

Bernhard Schlink: Der Vorleser

Bernhard Schlink„Der Vorleser“ von Bernhard Schlink ist ein berührendes Buch. Und es ist ein berührender Film, der völlig zurecht für nicht weniger als fünf Oscars nominiert wurde. Doch im Folgenden geht es natürlich um das Buch und seine Geschichte, die sich in drei Zeitschichten entfaltet:

Michael Berg ist Ende der 50iger Jahre 15 Jahre alt und erkrankt an Gelbsucht. Er lernt die zwanzig Jahre ältere Straßenbahnschaffnerin Hanna kennen und beide beginnen eine ungleiche Liebesbeziehung, die nach einiger Zeit auseinander geht.

Mitte der sechziger Jahre verfolgt Michael einen der Auschwitz-Prozesse und begegnet dort Hanna wieder, die dort als eine der Hauptangeklagten zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wird.

Nochmals 18 Jahre später wird Michael, inzwischen Jurist, beauftragt Hanna aus dem Gefängnis abzuholen und als Resozialisierungshelfer zu unterstützen.

Das ist natürlich eine unglaublich konstruierte Story. Einerseits. Andererseits ist so ein Lehrstück beinahe Brechtischer Strenge für die kritische Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne entstanden. Und wirklich gehört dieser Roman heute in vielen Schulen zur Pflichtlektüre. Und das ist auch gut so.

Schlink macht es seinen Leserinnen und Lesern nicht einfach. Er nennt Mord Mord und zeigt zugleich, dass Mörderinnen nicht einfach Bestien sind, sondern dass sich selbst der grausamste Mord gesellschaftlich entschlüsseln lässt. Hanna wird als sozial marginalisierte Analphabetin und (viel zu) spät Bereuende vorgestellt. Ja sie wird sogar als in ihrem späteren Leben liebens- und begehrenswerte Frau geschildert. Man erkennt KZ-Wächterinnen eben nicht immer an einer „unheilbaren“ faschistischen Gesinnung. Es sehen nicht alle aus wie die berüchtigte Hildegard Lächert, die „blutige Brygida“. Das macht Schlinks Buch angreifbar, wie alle wirklich guten Bücher. Der Vorleser arbeitet Widersprüche auf und ist deshalb in der Kritik auf Widerspruch gestoßen. Er hat meine Zustimmung. Ein uneingeschränkt wichtiges Buch.

Aleksander Tisma: Der Gebrauch des Menschen

Aleksandar TismaVon der Schwierigkeit zwischen Tätern und Opfern zu unterscheiden und davon, dass Geschichte niemals abgeschlossen ist handelt dieser 1991 erschienene Roman von Aleksander Tisma.

Wir befinden uns in der serbischen Stadt Novi Sad, in der Serben, Ungarn, Kroaten, Deutsche und Juden vor dem Zweiten Weltkrieg recht friedlich miteinander lebten. Dort treffen Vera, die Tochter einer Deutschen und eines jüdischen Kaufmanns und Sredoje, der aus serbisch-nationalem Elternhaus stammt, im Deutschunterricht aufeinander. Der Krieg trennt beide.

In Novi Sad brach damals der ganze europäische nationalistische Wahnsinn aus, der den Zweiten Weltkrieg ausmachte und der Jahrzehnte später den Jugoslawienkrieg beherrschte. Hier massakrierten die deutschen Faschisten die Juden, unterstützt von den Ungarn, Kroaten mordeten unter den Serben, Serben unter den Kroaten, Slawen unter den Deutschen und Ungarn.

Tisma scheut nicht vor der Schilderung der unfasslichen Greuel zurück. Er benennt das Grauen scharf und deutlich. Und das Grauen geht nach dem Krieg weiter. Vera und Sredoje treffen nach dem Krieg erneut aufeinander. Nun aber hat sich alles verändert. Er war Partisan, sie Kriegshure. Die (Un-)Taten der Kriegsjahre werden nicht aufgearbeitet, aber auch nicht vergessen. Die Wunden bleiben unversorgt.

Der Gebrauch des Menschen ist ein böses Buch über eine böse Zeit. Über eine Zeit, die nicht vorbei ist. Und so ist auch dieses Buch ein Geschichten- und Geschichtsbuch.

 

 

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