100 Bücher von 100 Autoren habe ich auf meinem Facebook-Kanal „Michael Kausch schreibt“ innerhalb von 100 Tagen vorgestellt.  Darunter befanden sich weit überdruchschnittlich viele Schriftsteller jüdischer Herkunft. Das muss Gründe haben. Sicherlich gibt es viele Juden unter den ernst zu nehmenden deutschsprachigen Schreibern. Und vielleicht fühle ich mich auch gerade diesen Schriftstellern und Denkern besonders verbunden. Aber es ist nicht so, dass man die jüdische Tradition den Werken immer anmerkt. Auf den zweiten und dritten Blick häufig schon. Und die Sujets sind schon gar nicht jüdisch. In diesem Quintett stell ich fünf wundervolle Bücher von fünf jüdischen Schriftstellern vor, die ihr „Jüdisch-Sein“ sehr unterschiedlich ausdrücken, die es aber doch nicht verbergen können und wollen.

W. G. Sebald: Austerlitz

Jacques Austerlitz wächst nach dem Zweiten Weltkrieg in Wales bei einem Predigerpaar in behüteten Verhältnissen auf. In seinen 50igern erfährt er aber, dass er eigentlich jüdischer Herkunft ist und dass seine leibliche Mutter ihn im Sommer 1939 mit einem Kindertransport aus dem von den Nazis bedrohten Prag nach England in Sicherheit bringen konnte.

Austerlitz beginnt daraufhin seine verlorene Kindheit und Herkunft mühsam zu erforschen. Seine Mutter war nach Theresienstadt deportiert und im Osten ermordet, sein Vater in einem Lager in den Pyrenäen interniert worden.

So komplex wie die Geschichte ist die Erzählweise, die W. G. Sebald für seinen Roman gewählt hat. Es ist nicht Austerlitz, der hier seine Geschichte vor dem Leser ausbreitet, sondern ein Erzähler, der Austerlitz begegnet und diesem die Geschichte in zahlreichen Begegnungen entreißt. Alles ist Hören-Sagen und Interpretation.

Austerlitz selbst montiert seine eigene Geschichte aus Versatzstücken, aus Fotografien und Erzähltem, die er mühsam recherchiert. Seine Erinnerung reicht ja nicht zurück in seine frühe Kindheit. Der Erzähler wiederum erfährt die Geschichte in einer Vielzahl von Begegnungen mit Austerlitz, Begegnungen, die ihrerseits oft Jahre auseinander liegen.

Der ganze Roman ist eine literarische „Stille Post“ und das wird dem Sujet natürlich sehr gerecht. Schließlich ist Geschichte immer Interpretation und ein Puzzle mit fehlenden Teilen.

Michael Rutschky hat Sebald’s Puzzle-Spiel nach seinem Erscheinen in einer Rezension in der Frankfurter Rundschau mit der Arbeitsweise des von mir arg verehrten Alexander Kluge verglichen. Das ist nicht ganz falsch. Mich hat es eher noch an Walter Benjamins Zettelkasten aus seinem Passagen-Werk erinnert. Nach Weihrauch riecht beides. Die ungeheure Spannung dieses Romans ergibt sich jedenfalls aus beiden Ebenen, aus dem Sujet und aus seiner vielfach gebrochenen und subjektivistischen Erzählweise.

Weiter geht es mit einem aktuellen Buch von Nir Baram:

Nir Baram: Im Land der Verzweiflung. Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete.

Meine Reise durch Israel und Palästina liegt nun auch schon wieder acht Jahre zurück. Damals lebte meine Tochter für ein Jahr in Israel. Danach habe ich es leider nicht mehr geschafft in dieses wunderbare Land zu fahren.

„In dieses wunderbare Land“ … Ja, ich liebe dieses Land. Israel ist das einzige Land der Welt, in dem Juden wirklich alles sein können und auch alles sind: Bankbesitzer und Bankräuber und Polizisten, die den Bankräuber fangen und Gefängniswächter, die ihn bewachen und Terroristen, die ihn befreien und Journalisten, die darüber berichten und Richter, die über ihn richten und Politiker, die die Gesetze dafür beschließen. Juden dürfen das nicht nur sein, sie sind es auch. Das ist Israel. Und solange es Antisemitismus überall auf der Welt gibt, solange muss es Israel geben. Punkt.

Und ich weiß natürlich, dass all dies den Palästinensern heute verwehrt ist. In Israel sowieso und in Palästina auch.

Israel und Palästina – dies sind zwei Begriffe, die als regionale Trennlinien heute kaum mehr zu gebrauchen sind. Nir Baram, ein großartiger Schriftsteller, hat den Glauben an die 2-Staaten-Lösung längst aufgegeben. Er spricht im Westjordanland mit Juden und Palästinensern, mit Bewohnern jüdischer Siedlungen und mit Bewohnern von Flüchtlingslagern. Er will die Menschen zusammenbringen.

Er sucht nach Alternativen von unten, statt nach Alternativen von oben. Vielleicht ist das der einzige Weg eine heillos verworrene Situation zu lösen. Eine politische Alternative für Israel und Palästina? Mir fällt keine ein. Alternativen für Israeli und Palästinenser? Es scheint viele zu geben. Deshalb ist das Buch, das den Titel „Im Land der Verzweiflung“ trägt, in Wahrheit ein Buch voller kleiner Hoffnungen.
In diesem Sinne: Shalom!

Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten.

Man muss wirklich kein Krimi-Fan sein, um dieses Buch zu mögen. Es genügt ein schräger Humor.

Wer ist Michael Chabon? In Deutschland ist der Mann recht unbekannt. Obwohl er 2001 immerhin mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Und seine jiddischen Polizisten haben in den USA einige kleinere Preise abgeräumt.

Und worum geht es? Um eine wilde Idee: Kurz nach Ausrufung des Staates Israel werden die Juden gleich wieder aus dem Heiligen Land vertrieben und erhalten in Alaska in der autonomen Region Sitka für eine befristete Zeit eine neue Heimat. Nun aber ist die Zeit Sitkas abgelaufen und die Juden werden erneut vertrieben. Und in dieser Zeit spielt der Roman.

Der versoffene Polizist Meyer Landsman (!) findet einen Toten, den Sohn von Rabbi Shpilman, die „Schwarzhüte“ kommen ins Spiel, das Café Einstein, die ganze Mischpoke, die in einem guten jiddischen Roman irgendwie und irgendwo vorkommen muss. Und eigentlich geht es gar nicht so sehr um den Plot, sondern um die Szene, die Figuren, die alle so aussehen, als hätte Isaac B. Singer sie für einen Song von Tom Waits entworfen. Ein himmlischhöllisches Vergnügen. Wer der Mameloschn nicht mächtig ist muss ab und an das Glossar zu Rate ziehen. Aber das geht schon. Lesen!

Hermann Grab: Der Stadtpark.

„Ich habe Hermann Grabs Erzählung mit einem Vergnügen gelesen, wie sie mir lange kein Manuskript bereitet hat.“ Der Satz könnte von mir sein, ist er aber nicht. Thomas Mann hat sich so über Hermann Grabs kleinen Roman „Der Stadtpark“ geäußert, ein Werk, das fast vergessen war und auf das ich vor einigen Jahren durch einen Hinweis meines Sohnes aufmerksam wurde.

Herman Grab war ein begnadeter Impressionist der Schriftstellerei. Geboren am 6. Mai 1903 – ja, uns eint der Geburtstag – in Prag, der Stadt in der 20 Jahre zuvor Franz Kafka auf die Welt kam.

Zumindest letzteres ist kein Zufall, denn der Geist der Stadt an der Moldau prägte beide. Beide auch waren sie jüdischer Abstammung, wenngleich Grabs Familie wie zahlreiche andere großbürgerliche Sippen auch zum Katholizismus konvergiert war. Grab wie Kafka wurden gleichermaßen von der Erfahrung des Niedergangs der bürgerlichen Gesellschaft im frühen 20. Jahrhundert wie vom Antisemitismus in der modrigen Spätphase der k.u.k.-Monarchie geformt.

Der lange Marsch in die Innerlichkeit in Verbindung mit der feinen Wahrnehmung des Bildungsbürgers erlaubte ihm die Durchdringung gesellschaftlicher Realitäten mit subjektivistischer und impressionistischer Schreibe. Adorno, den Grab zu seinen Freunden zählen durfte, bemerkte zu Grab, „dass ihm der österreichische Impressionismus noch selbstverständlich war, als längst die spiegelnd glatte Fläche der Gesellschaft zerbrochen lag.“

Worum geht es im Stadtpark?

Geschildert werden die (seelischen) Erfahrungen Renatos, eines Sohnes wohlhabender Eltern, der den jugendlichen Hermann Grab repräsentiert. Geschildert werden seine Erfahrungen mit der so monströsen wie morbiden Erwachsenenwelt, seine ersten amourösen Gefühle ebenso, wie die Erfahrung von Todesnähe, Krieg und Abschied.

Alfred Polgar: Im Lauf der Zeit

„Behutsame Pamphlete“ nannte Marcel Reich-Ranicki die Prosa Alfred Polgars einmal. Polgar ist leider nicht allzu sehr bekannt, weshalb es Sinn macht ihn ein wenig vorzustellen. Geboren 1873 in Wien lebte er einige Jahre dortselbst als Journalist in verschiedenen Kaffeehäusern in literarischer Wohngemeinschaft mit Peter Altenberg und Anton Kuh eher er 1925 nach Berlin umsiedelte. Dort arbeitete er unter anderem für die Weltbühne als Theaterkritiker. Vor den Nazis flüchtete er erst nach Prag, dann nach Österreich, dann nach Frankreich und später in die USA, vor den Amerikanern schließlich in die Schweiz, wo er 1955 starb.

Der kleine Band „Im Lauf der Zeit“ versammelt kurze Geschichten über Gott und die Welt, vorzugsweise aber über die Welt, wie sie Polgar mit- und vorgespielt hat, zum Beispiel über seine Erfahrungen in der amerikanischen Emigration.

Eine kleine Textprobe über einen Kollegen im Mittelbau eines Filmstudios in Hollywood:

„Er verhielt sich zu den Schicksal-bestimmenden Personen des Studios wie ein kluger Atheist zu Göttern, von deren Gottheit er nicht überzeugt ist, denen er aber, aus Vorsicht, jedenfalls opfert. Er befruchtete den Produzenten, für den er arbeitete, ihn hierbei in der Täuschung lassend, daß er seinerseits von ihm befruchtet werde. Er praktizierte ihm die Einfälle, die er selbst hatte, listig in die Tasche und empfing sie von dort als Originaleinfälle des Vorgesetzten dankbar wieder.“

Mein Lieblingszitat von Alfred Polgar geht übrigens so: „Die Presse hat die Aufgabe, das Gras zu mähen, das über etwas zu wachsen droht.“

Ich mag ihn. Er war ein großer Liberaler.

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