Auf meiner Facebook-Seite „Michael Kausch schreibt“ und auf Instagram veröffentliche ich seit einiger zeit täglich einen kleinen Buch-Tipp. Und weil Facebook und Instagram so vergängliche Medien sind will ich das dort Verflüchtigte nach und nach in neuer Reihung und Zuordnung und vielleicht auch mal an der ein oder anderen Stelle ein wenig überarbeitet und ergänzt hier in den Stein meines Blogs meißeln. Als „Literarisches Quintett“ werde ich also in loser Folge gelegentlich an dieser Stelle fünf Bücher und Autoren, die mir in meinem Leben Spaß oder Erkenntnis bereitet haben, kurz vorstellen. Dabei geht es mir weniger um klassische Buchvorstellungen, als vielmehr um Erinnerungen, die mich überfallen, wenn ich die Bücher aus dem Regal ziehe. Und schon geht’s los.
Yasar Kemal: Das Unsterblichkeitskraut
Wenn mich ein Teufelchen zwingen würde einen Lieblingsautor zu nennen, ich würde mich für den Türken und Kurden Yasar Kemal entscheiden. Seit 1972 wurde er immer wieder für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Erhalten hat er ihn nie. Er saß als linker Demokrat mehrmals im Gefängnis, schrieb viele Jahre als Journalist für die Zeitung Cumhuriyet, war mit einer jüdischen Frau verheiratet, setzte sich leidenschaftlich für die Aussöhnung von Türken und Kurden ein, kurz: sein Leben in der modernen Türkei war niemals wirklich einfach.
Er war ein wortgewaltiger Erzähler mit einer so bildreichen Sprache und einer ruhigen Art Geschichten zu entwickeln, dass jedes seiner Bücher einen unwillkürlich entführt. Mit ihm bin ich nach Anatolien gereist, habe das Taurusgebirge bestiegen, die Cukurova-Ebene durchwandert, ich war auf der Ameiseninsel und habe das Unsterblichkeitskraut gesucht und gefunden. Yasar Kemal gehört zu den wenigen Autoren, dessen auf Deutsch erschienenes Werk ich komplett gelesen habe. Und ich vermisse jedes Buch, das er nicht geschrieben hat.
Dass ich heute das Unsterblichkeitskraut in die Kamera halte ist purer Zufall. Es ist der dritte Band der Anatolischen Trilogie, die mit „Der Wind aus der Ebene“ beginnt und deren zweiter Band „Eisenerde, Kupferhimmel“ ist. Mein erstes Buch war übrigens Eisenerde. Einzig bei den drei Bänden der „Inselromane“ muss man zwingend die vorgegebene Reihenfolge einhalten: „Die Ameiseninsel“, „Der Sturm der Gazellen“ und „Die Hähne des Morgenrots“ sind in genau dieser und in keiner anderen Reihenfolge zu lesen.
Antonio Tabucchi: Es wird immer später
Antonio Tabucchi, der Italiener, der immer über Portugal schrieb, als wäre er Portugiese. „Es wird immer später“ ist kein Roman, sondern eine Sammlung fiktiver Liebesbriefe. Und es ist auch nicht Tabucchis bestes Buch. Es ist vielleicht noch nicht einmal wirklich starke Literatur. Aber wer Tabucchi mag – und ich verehre ihn – der MUSS dieses Buch haben.
Es verhält sich mit diesem Buch ein wenig wie mit der Platte „Homegrown“ von Neil Young“ (siehe #tagesplatte 77 auf meiner Facebook-Seite vom 8. August): das sind kleine Pretiosen, locker aus der Hand gespielt. Tabucchi meinte in irgendeinem Interview (Quelle vergessen!) einige der Stücke seien ihm „einfach so eingefallen„. Da ist nichts grandios konstruiert wie in „Erklärt Pereira“, seinem Meisterstück. „Es wird immer später“ ist leichte Lektüre für den Nachttisch, ein Buch das die Sprachkunst des Meisters zauberhaft illustriert. Unterhaltung auf höchstem Niveau. Liebesbriefe für den reiferen Herrn. Ähäm …
Louis Begley: Schmidts Bewährung
Und da sind wir schon bei den „älteren Herrn“: Alter Mann mit Geld betrügt seine mitgealterte Frau mit junger schöner Frau in die er sich auch noch hoffnungslos verliebt. Die läuft ihm nach kurzer Zeit davon. Völlig zurecht nennt Martin Lüdke in der Frankfurter Rundschau dieses Buch einen „Trivialroman“. Zugleich aber einen „Gesellschaftsroman hoher Güte“.
Wer Louis Begleys Erstlingswunderwerk „Lügen in Zeiten des Krieges“ gelesen hat, der weiß, dass dieser Autor ein sehr amerikanischer Schriftsteller ist. Er packt das ganz große Emotionenbesteck aus ohne dabei aber wirklich kitschig zu werden. Aber Verfremdung und Distanz sind nun wirklich nicht seine Art.
Stimmt schon: ein wenig ist Louis Begleys der Hedwig Courths-Mahler für Leser mit Abitur. Also wer mal ein Sommerbuch sucht um schwere Herbstgewitter zu vertreiben: Lesen.
Gabriel García Márquez: Erinnerung an meine traurigen Huren
Neben Kemal und Tabucchi gehört Gabriel García Márquez zweifelsfrei zu meinen absoluten Lieblingsautoren. Wie von den ersteren habe ich von ihm wohl so ziemlich alles gelesen, was in deutscher Sprache erschienen ist, vom „Bericht eines Schiffbrüchigen“ über die „100 Jahre Einsamkeit“ und „die Liebe in den Zeiten der Cholera“ bis hin zur „Nachricht von einer Entführung“. Auch die eher weniger bekannte „Erinnerung an meine traurigen Huren“.
Dies ist die schönere und stimmigere Version der bekannten Geschichte vom alten Mann, der sich in ein junges Mädchen verliebt, die bei Louis Begley „Schmidts Bewährung“ heißt. Bei Márquez ist es eine junge Hure, in die sich der alte Bock hoffnungslos verliebt. Die Geschichte ist freilich ebenso abgeschmackt und zotig, wie bei Begley, aber noch viel schöner erzählt. Natürlich ist das Ganze eine Altherrengeschichte, erzählt am prasselnden Kaminfeuer am Fuße des Treppenlifts. Das Mädchen ist eine Jungfrau wie aus einem alten und zurecht heute vergessenem Bilderbuch. Ein viel zu junges 14jähriges immer schlafendes schönes passives willenloses Mädel, das einfach da ist, sonst nix, ganz Objekt der Begierde. Der Alte ist knapp an der Verwesung in hoffnungsloser Selbstüberschätzung und Selbstverliebtheit – ein ehemaliger Journalist – sagte ich das schon?
Dass man aus einem solch abgeschmacktem Sujet ein schönes Buch machen kann, erfordert großes literarisches Können. GGM hat es. Glück gehabt.
Italo Calvino: Der Baron auf den Bäumen.
Ich liebe gutes Essen. Aber ich mag keine Schnecken. Cosimo Piovasco di Rondo darf also mit meinem vollsten Verständnis rechnen, wenn er, die Hauptfigur dieses Romans, sich weigert die aufgetragenen Schnecken zu essen. Der arme Cosino ist aber gerade erst 12 Jahre alt und lebt im 18. Jahrhundert. Es herrschen Zucht und Ordnung im Hause des Barons di Rondo. Um der absehbaren Bestrafung zu entgehen flieht der aufsässige Knabe aus dem Haus und beschließt fortan auf den Bäumen zu leben. Nie wieder wird er den Erdboden betreten. Er lebt, liebt und stirbt im Geäst.
In den Bäumen sieht der heranwachsende und schließlich alternde Cosimo die Welt mit anderen Augen, aus einer anderen und oftmals überraschenden Perspektive. Er durchschaut die Widersprüche einer Welt im Umbruch der Aufklärung. Der Absolutismus bricht ja gerade mit lautem Getöse in sich zusammen. Wir begegnen der ganzen alten Gesellschaftsordnung in Gestalt des desorientierten Vaters, der unglücklichen Mutter, eines bigotten Pfaffen – ein Personal wie aus der Besetzungsliste eines Fellini-Films.
Die überaus farbenfrohe barocke Sprache Calvinos passt aufs Vortrefflichste zum Sujet und lässt das Lesen zum reinen Vergnügen werden. Ein Bilderbuch der Sprache. Ein ganz großer Lesespaß. Die ZEIT erklärte den Roman übrigens zum Kinderbuch. Na wenn schon. Dann wäre es jedenfalls ein Buch für die ganze Familie.
Hier geht es zum Literarischen Quintett II: Meer Bücher: Andersch – Coloane – Laxness – Proulx – Richter