Meet a Jew“ heißt eine schöne Aktion des Zentralrats der Juden in Deutschland. Aus Anlass des Festjahres „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ vermitteln jüdische Gemeinden persönliche Kontakte zwischen nicht-jüdischen und jüdischen Menschen. Da können Gojim und Gojete dann mal fragen, ob Juden auch in Urlaub fahren, was sie am Schabbat machen und wie das eigentlich so funktioniert mit dem koscheren Essen und den zwei Kühlschränken. Und Juden erklären ihren deutschen Freunden den Kaschrut und … äh … dass sie auch Deutsche sind. 

Dass die Jiddischkait ein wichtiger Teil der deutschen Kultur ist, ist leider bei vielen in Vergessenheit geraten. Nichtjuden gebrauchen zwar noch viele jiddische Begriffe – Abzocke, Chuzpe, Haberer, Großkotz, Kaff, Maloche, Massel, Mischpoke, Schickse – sind sich dessen aber nur selten bewusst. Und erst recht bleibt ihnen der jüdische Alltag ein großes Mysterium. 

Das liegt natürlich auch daran, dass es so viele Spielarten des jüdischen Lebens gibt, wie es Formen des nichtjüdischen Lebens gibt. Der Unterschied zwischen einem orthodoxen und einem nicht-religiösen Juden ist nicht geringer, als zwischen einem fundamentalistischem Kreationisten und einem marxistischen Befreiungstheologen, oder wenigstens zwischen einer katholischen Bauersfrau aus der Oberpfalz und einem lutherischen Motorradpastor aus St. Pauli.

Die Hochzeit der Chani Kaufman

Wer einen ersten Einblick in die Vielfalt jüdischen Lebens und vor allen Dingen in das sehr verschlossene Leben des orthodoxen aschkenasischen Judentums  gewinnen will, der sollte „Die Hochzeit der Chani Kaufman“ von Eve Harris lesen. Und er wird auch noch Spaß dabei haben und sich bestens unterhalten fühlen.

Jüdische Wahlverwandschaften

Drei Paare bilden die Protagonisten des Romans:

Im Zentrum stehen Chani und Baruch, ein junges Paar aus orthodoxen Familien, er aus einer reichen, sie aus einer armen Familie, beide aus London. Sie stehen kurz vor ihrer Hochzeit, haben sich noch nie berührt. Sexualität vor der Hochzeitsnacht gibt es nicht, weder in der Praxis, noch in der Theorie. Gegenüber den beiden sind moderne nichtjüdische 12jährige Kinder bestens ausgebildete Sexualwissenschaftler. Dass dies zu verhängnisvollen Komplikationen führen muss, steht außer Frage.

Das zweite Paar sind Rabbi Zilberman und seine Frau, die „Rebezzin„. Letztere ist meine persönliche Heldin in diesem Buch. Aber dass nur nebenbei. Sucht Euch doch Eure eigene Identifikationsfigur … Die beiden haben sich vor vielen Jahren als junge liberal denkende Menschen in Israel kennengelernt und sich später erst in die Orthodoxie begeben. In zahlreichen Rückblenden wird der Konflikt zwischen liberalem und orthodoxem Judentum sichtbar, ein Konflikt, der in der Ehe der beiden im Laufe des Romans dezent heftig aufbricht, so dezent heftig, wie das nur bei einem Rabbi-Ehepaar geschehen kann.

Der Sohn des Rabbiner-Ehepaars Avromi schließlich lernt die bezaubernde und verzaubernde Shoa kennen, eine lebenskluge Nichtjüdin, die ratzfatz das ganze jüdische Weltbild des frommen jungen Manns in Frage stellt und jenen Teil an ihm aufrichtet, der eigentlich  nicht aufrichtig sein soll. Oh je.

Witz und Kritik, Charme und Ironie, jüdisch und britisch

Es ist alles drin und dran in diesem Buch: es ist witzig und selbstkritisch, liebevoll und kenntnisreich. Ich denke, nur eine Jüdin und nur eine Engländerin kann so geistreich und humorvoll kritisch und solidarisch über jüdisches Leben schreiben. Die unterdrückte Rolle der Frau im orthodoxen Judentum, all das reaktionäre, die verlogene Doppelmoral, der kaum versteckte Rassismus und zugleich die Utopie im Glauben, die Fürsorge und Solidarität der Gruppe, alles das steckt in der Jiddischkait. Vieles ist einfach ein Überlebenskampf, der aus Abgrenzung gegen Kommerz und Rassismus der Mehrheitsgesellschaft  erwächst. Alles das erzählt dieses Buch ohne Besserwisserei, ohne erhobenen Zeigefinger, ohne Anklage, aber mit viel Verstand und Gefühl und Empathie.

Wenn es irgendetwas gibt, dass dieses Buch vor allem anderen auszeichnet, dann ist es diese Empathie, dieses tiefe Mitfühlen, das die Autorin noch den scheinbar widerlichsten Kotzbrocken – übrigens ein Lehnwort aus dem Hebräischen – ihres Romans entgegenbringt.

Große Leseempfehlung.


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