Les Milles

Ein Besuch in Les Milles – Das ehemalige Internierungslager in Aix-en-Provence

Im Sommer 2025 besuchte ich Les Milles, das Internierungslager in Aix-en-Provence, in dem Anfang der vierziger Jahre zahlreiche deutsche antifaschistische und jüdische Schriftsteller und Maler wie Lion Feuchtwanger, Golo Mann und Max Ernst interniert waren. Zwischen August und September 1942 diente es als Sammellager für die Organisation der Vernichtung der Juden aus Frankreich. Von hier aus wurden mehr als 2.000 von ihnen nach Auschwitz, Treblinka und Sobibor deportiert. Gerade einmal 172 überlebten die Transporte.

Les Milles ist heute das einzige ehemalige Lager, das in Frankreich als Gedenkort an die Vertreibung und Vernichtung der europäischen Juden und an die Verfolgung der Hitler-Gegner intakt ist und als Museum betrieben wird.

„Der kleine Ort Les Milles ist hässlich, doch die Landschaft ringsum ist sanft und lieblich; hügeliges Gelände, blau und grün, kleine, sanfte Flüsse, alte Landgüter, Ölbäume, Reben, viel Rasen (…). Inmitten dieser Landschaft lag unbeschreiblich hässlich unsere Ziegelei.“

Lion Feuchtwanger

Les Milles – Die Ziegelei

Les Milles war ursprünglich eine Ziegelei. Man sieht noch heute in der Gedenkstätte zahlreiche alte Arbeitsgegenstände aus jener Zeit. 1937 wurde der Betrieb eingestellt und in den Gebäuden ein Internierungslager für Angehöriger „feindlicher Staaten“ eingerichtet. Vor allem Deutsche und Österreicher wurden interniert. In erster Linie handelte es sich um Emigranten, die vor der Nazi-Regierung geflohen waren. Freilich befanden sich auch einige glühende Faschisten unter den rund 2.000 Gefangenen. Einige gaben sich zu erkennen, viele auch aus Angst vor Repressalien der Franzosen nicht. So herrschte großes Misstrauen unter den Häftlingen.

Zugleich aber schildert Lion Feuchtwanger in seinem ausführlichen Bericht von seiner Zeit in Les Milles, erschienen unter dem Titel „Der Teufel in Frankreich. Erlebnisse 1940“, auch die allgemeine Solidarität, die unter den Gefangenen herrschte.

Bilder aus dem wiederhergestellten Ziegelei-Trakt der Gedenkstätte Les Milles

Der Teufel in Frankreich

Es gab auch eine gewisse Solidarisierung zwischen einzelnen Mitgliedern der Wachmannschaften und den Häftlingen. Zeitweise wurde sogar der unerlaubte „Durchbruch“ durch die Umzäunung des Lagers gestattet. Es gab Häftlinge, vor allem ehemalige Fremdenlegionäre, die regelmäßig das Lager durch Löcher im Zaun verließen, bei Bauern im Umland Waren, vor allem natürlich Lebensmittel, erstanden und diese im Lager an andere Häftlinge verkauften. So existierte ein reger Schwarzmarkt in Les Milles. In der Anfangszeit richteten die Gefangenen in der sogenannten Katakombe von Les Milles sogar einen kleinen Nachtclub und ein italienisches Kaffeehaus ein. Dort gab es eingeschmuggelten Cognac, Kuchen und Schokolade. Bezahlt wurde in Zigaretten, Nägeln oder auch in Gedichten – wenn man ein mittelloser Dichter war. In Ermangelung von Tänzerinnen traten Häftlinge gelegentlich in Frauenkleidern auf. Den Rest erledigte die Phantasie …

Auch die Lagerleitung war keinesfalls brutal zu den Häftlingen. Lion Feuchtwanger schildert die Administration zwar als „Teufel in Frankreich“, aber als bürokratischen Teufel. Gegenüber den deutschen Besatzern war die französische Administration beflissen feige und bürokratisch langsam. Immer wieder versprach man den Inhaftierten, die ja eigentlich wie die Franzosen Hitler-Gegner waren, die baldige Freilassung – allein es fehlten immer wieder irgendwelche notwendigen Papiere. Feuchtwanger schreibt: „Ich muss hier anmerken, dass ich weder bei meiner ersten Internierung in Toulon du in Les Milles, noch bei meiner zweiten in Les Milles und in Nimes irgendetwas erlebt oder gesehen hätte, das man als Grausamkeit oder auch nur als schlechte Behandlung hätte bezeichnen können. Niemals wurde geschlagen oder gestoßen oder auch nur geschimpft. Der Teufel in Frankreich war ein freundlicher, manierlicher Teufel. Das teuflische seines Wesens offenbarte sich lediglich in seiner höflichen Gleichgültigkeit den Leiden anderer gegenüber, in seinem Je-m‘en-foutismus, in seiner Schlamperei, in seiner bürokratischen Langsamkeit.“

Les Milles im November 1941
Les Milles im November 1941
Konferenz von Häftlingern im November 1941
Konferenz von Häftlingern im November 1941

Das Elend in Les Milles

Das Lager war überfüllt, es gab zu wenig Essen, die Insassen schliefen im Staub der Ziegel. Feuchtwanger, der im ersten Stock untergebracht war, berichtet, dass es dort so dunkel war, dass Lesen unmöglich war. Überall lag eine dicke Schicht Ziegelstaub.

Die verdreckten Latrinen und das dreckige Wasser führten zu schlimmen Krankheiten und zu Todesfällen. Es gab überhaupt viel zu wenig Latrinen für viel zu viele Häftlinge. In den schlimmsten Zeiten war das Lager massiv überbelegt. Bis zu 3.000 Häftlinge saßen hier gleichzeitig ein. Gegen die unmöglichen hygienischen Zustände unternahm die Lagerleitung nichts. Und ständig drohte die Auslieferung an die Deutschen durch übergeordnete französische Behörden des Vichy-Regimes oder gar die Besetzung des Lagers durch die deutsche Wehrmacht oder die SS. Immer wieder kam es zu Selbstmorden unter den Häftlingen. Einer der Gefangenen, die sich in Les Milles das Leben nahmen, war der deutsche Schriftsteller Walter Hasenclever. Er nahm in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni 1940 eine Überdosis Veronal. Er wurde ein Opfer nicht nur des deutschen Faschismus, sondern auch des freundlichen französischen Teufels.

Das Obergeschoss von Les Milles.
Das Obergeschoss von Les Milles. Hier war Lion Feuchtwanger untergebracht.
Die Latrinen von Les Milles
Die Latrinen von Les Milles

Die Kunst in Les Milles

Im Vergleich zu anderen Lagern zeichnet sich Les Milles dadurch aus, dass hier ausnehmend viele Künstler interniert waren, Schriftsteller, Musiker, aber auch Maler. Als Expressionist war man in Nazi-Deutschland so verfemt, wie als linker Schreibender, als Neutöner oder als Jude. Und so gab es in Les Milles nicht nur regelmäßig Dichterlesungen und kleine Konzertaufführungen, sondern es finden sich noch heute die Hinterlassenschaften der malenden und zeichnenden Häftlinge an manchen Wänden.

les milles wandskizze
Kleine Wandinschrift im Bereich des Lagers Les Milles
Das Häftlingsorchester von Les Milles
Das Häftlingsorchester von Les Milles
Theateraufführung in Les Milles
Theateraufführung in Les Milles
Ankündigung einer Kabarett-Vorstellung in Les Milles
Ankündigung einer Kabarett-Vorstellung in Les Milles
Katakomben von Les Milles
In den Katakomben von Les Milles fanden die Theateraufführungen statt

Vor allem im Speisesaal der Wachmannschaften befinden sich großartige Wandmalereien, die von Häftlingen des Lagers im Herbst 1940 angefertigt wurden. Zu den Künstlern zählten so etablierte Maler wie Karl Bodek, Robert Liebknecht, Max Lingner, Leo Marschütz und Anton Räderscheidt. Die Bilder erzählen von den Träumen der Gefangenen nach Freiheit und Sattheit. Im großen Wandbild Festessen der Völker der Erde schmausen ein Afrikaner, ein Asiat, ein Inuit, ein Amerikaner, ein Italiener, ein Niederländer und ein Inder an einer großen reich gedeckten Tafel. Dargestellt werden sie als als Repräsentanten ihrer Völker mit allen Vorteilen, die man heute wohl als übergriffig oder gar als rassistisch bezeichnen würde. Sie sind ein Bild der Zeit. Und doch ist es ein Bild der Völkerfreundschaft – so wie man es vor beinahe hundert Jahren mit leerem Magen zu malen verstand. Die Inschrift lautet: „Si vos assiettes ne sont pas très garnies, puissent nos dessins vous calmer l’appétit“ , zu Deutsch: „Wenn eure Teller nicht sehr voll sind, mögen diese Zeichnungen euren Hunger stillen.“

Wandbild in Les Milles
Das Wandbild "Festessen der Völker der Erde" im Speisesaal der Wachmannschaft von Les Milles
Wandmalereien in Les Milles
"Wenn eure Teller nicht sehr voll sind, mögen diese Zeichnungen euren Hunger stillen."

Andere Bilder zeigen ein Schlaraffenland mit Schinken, Sardinen, Käse, Würsten, Ananas und Weinfässern. Die intensive blaue Farbe wurde übrigens aus dem Waschpulver der Anstaltswäscherei gewonnen.

Das Freigelände

Im Freigelände vor der Ziegelei erinnert ein Güterwaggon, aufgestellt am Abfahrtsort der Transporte nach , an die Deportation von mehr als 2.000 Juden aus Frankreich im Sommer 1942. Die meisten wurden ins Vernichtungslager Birkenau verbracht. Diese Transporte begannen schon bald nach dem Einmarsch der deutschen Truppen ins ehemals „freie“ Südfrankreich. Sie sind der bittere Höhe- nein Tiefpunkt der Geschichte von Les Milles. Aus dem Lager für Kriegsgegner war ein Sammellager zur Vernichtung jüdischer Menschen geworden, aus einem Spielplatz des Teufels ein Vorhof zur Hölle.

Les Milles nach dem Krieg

1946 nahm die Ziegelei übrigens wieder ihren Betrieb auf. Nein, nicht als Lager, als Ziegelei. Als wäre nichts gewesen. Les Milles ist ja nicht nur ein wichtiger Gedenkort für die Shoa und an die Verbrechen der Nazi-Barbarei. Es ist auch ein Ort, an dem sich das ambivalente Verhalten der französischen Behörden während der deutschen Besetzung festmachen lässt. Hier lebte der Teufel in Frankreich. Die französische Geschichtsschreibung hat lange nur über die Helden der Resistance gesprochen. Ein Hund war nur dieser Pétain und paar seiner Getreuen. 1983 sollte dieses wichtige Zeugnis französischer Geschichte in Aix abgerissen werden. Die Zielherstellung brachte nichts mehr ein. Jack Lang, damals Kulturminister der sozialistischen Regierung in Paris, setzte sich für den Erhalt von Les Milles als Gedenkort ein. Zwischen 2002 und 2012 schließlich entstand ein Gedenkort, ein Museum und eine Forschungsstätte in Les Milles die unbedingt einen Besuch lohnt. In Les Milles wird heute eine hervorragende Öffentlichkeitsarbeit und Forschung betrieben, nicht nur zu Geschichte des Lagers, sondern auch zur Geschichte von Faschismus, Kollaboration und Widerstand und weit darüber hinaus zur Demokratie.

Ein paar Lesehinweise

Die Gedenkstätte Les Milles betreibt eine sehr informative Website. Zur Vorbereitung eines Besuchs sehr empfehlenswert:

https://www.campdesmilles.org/

Hinweisen möchte ich auch auf den (deutschen) Eintrag im Gedenkstättenportal. Dort lohnt ohnehin ein Besuch:

https://www.memorialmuseums.org/memorialmuseum/gedenkstatte-lager-les-milles

Dies ist auch ein guter Anlass auf den wunderbaren Blog von Monika Fritsch hinzuweisen, die nicht nur über Les Milles, sondern in mehreren Beiträgen auch über das Thema Exilliteratur profund zu berichten weiß:

https://monikafritsch.de/camp-des-milles

Und natürlich sollte man vor einem Besuch von Les Milles dringlichst das Buch „Der Teufel in Frankreich“ von Lion Feuchtwanger lesen. Ich habe es hier auf Czyslansky ja bereis an anderer Stelle vorgestellt:

Buchvorstellung: Lion Feuchtwanger: Der Teufel in Frankreich.

Varian Frey berichtet in „Auslieferung auf Verlangen“ über die Rettung zahlreicher exilierter deutscher Schriftsteller aus Südfrankreich, darunter auch Feuchtwanger, den er direkt aus Les Milles holt. Auch dieses Buch habe ich bereits vorgestellt: Varian Frey: Auslieferung auf Verlangen.

Zu den Exilschriftstellerinnen zählt Hilde Stieler, deren Erinnerungen ebenfalls schon Thema auf Czyslansky waren: Hilde Stieler: Die Edelkomparsin von Sanary.

Schießlich sei noch das wunderbare und doch sehr bekannte Buch „Marseille 1940“ empfohlen, in dem sich Uwe Wittstock dem Schicksal der Exilschriftsteller widmet. Besprochen wurde es wo? Erraten, hier: Uwe Wittstock: Marseille 1940

Illustrationen © Michael Kausch und Archiv der Gedenkstätte Les Milles

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