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Daisy, bist du’s?

Aus aktuellem Anlaß (Schneetief „Daisy“) wiederholen wir heute einen Blog-Beitrag, den ich im September 1999 auf www.cole.de veröffentlicht habe.

Die zwischenmenschliche Begegnung per Computer und Internet kann ebenso befriedigend und lohnenswert sein wie die Begegnung auf der Straße, im Café oder im Büro – geschweige denn über das Telefon, bei dem wir uns nicht sehen, dennoch aber glauben, eine unmittelbare und intensive Kommunikation betreiben zu können. Wer das nicht glaubt, der muss sich nur in den Chat-Foren, den Diskussionsgruppen oder den Online-Communities im Internet umsehen und erleben, was dort abgeht.

Ein Beispiel aus der Praxis kann das verdeutlichen: Beim Hochwasser der Isar im Frühjahr 1995 brachte unsere damals zehnjährige Tochter eines Tages ein winziges Entenküken mit nach Hause. Das Tier war offenbar von den Wassermassen fortgeschwemmt worden. Jedenfalls war es, als es gefunden wurde, bereits unterkühlt und apathisch.

Unsere Tochter schaute mich mit großen Kinderaugen an und sagte: „Papi, was machen wir damit?“ Als begeisterter Hobbykoch hätte ich ihr zwar ein paar Rezepte für Enten sagen können, nicht aber, wie man eine wenige Tage alte Ente füttert oder großzieht. In unserer Not beschlossen wir, gemeinsam ins Internet zu gehen und Hilfe zu holen. Schließlich soll es ja Online-Foren zu jedem erdenklichen Thema der Welt geben, warum also nicht auch zu diesem? Tatsächlich fanden wir nach wenigen Minuten eine Diskussionsgruppe, die sich rec.pets.birds nannte und in der sich Menschen treffen, um sich per E-Mail über das Halten von Vögeln als Haustiere auszutauschen. Wir schrieben eine kurze Mitteilung, etwa folgenden Wortlauts: „Hilfe – was machen wir mit einem zehn Gramm schweren Entenküken, das von seiner Familie getrennt worden ist?“

Was dann geschah, war überwältigend. Innerhalb von einer Stunde waren bereits Antwortschreiben im elektronischen Briefkasten, das erste witzigerweise aus unserem Wohnort München (so viel zur Aufhebung von Zeit und Raum …). Innerhalb von 24 Stunden kamen rund 400 Mails zurück, teilweise von Spinnern, teilweise auch nur von Leuten, die uns (und natürlich dem Tier) Glück wünschen wollten. Es waren aber auch eine Handvoll ernstgemeinter Antworten dabei, darunter eine mehrseitige „Gebrauchsanweisung für junge Enten“, die eine Tierpflegerin aus Santa Monica in Kalifornien für uns geschrieben hatte und in der sie detailliert beschrieb, wie man ein Entenküken füttert und wie man den Käfig einrichtet („unbedingt eine Infrarotlampe über den Käfig hängen, sonst bekommt es wahrscheinlich eine Lungenentzündung, wenn es alleine ist ohne die Körperwärme der Mutter“). Außerdem riet sie uns, einen Spiegel in den Käfig zu stellen, weil Enten gesellige Wesen seien, die Spielkameraden brauchen, sonst würden sie Verhaltensstörungen entwickeln.

Daisy, wie wir die kleine Ente genannt haben, ist übrigens groß und fett geworden. Wir haben sie nicht in Orangensauce serviert, sondern gemeinsam wieder an der Isar ausgesetzt, wo sie sich gleich zu einer Gruppe von anderen Entenweibchen gesellt hat. Natürlich haben wir die Leute, die uns geschrieben haben, auch zurückgeschrieben. Zu einigen von Ihnen habe ich heute noch Kontakt, elektronisch und auch sonst. Die Tierpflegerin beispielsweise hat uns ein Jahr später bei einem Europaurlaub kurz besucht, und wir schreiben uns immer noch regelmäßig Mails, wobei es da längst nicht mehr um Daisy, sondern um ganz andere Dinge geht.

Wenn dieses Beispiel etwas zeigt, dann doch dies: Das Internet ist als Mittel zwischenmenschlicher Kommunikation genauso geeignet wie andere, die längst akzeptierter Bestandteil unseres Alltags geworden sind wie Telefon oder Briefe. In E-Mails feiert sogar die verloren geglaubte Kunst des Briefeschreibens fröhliche Auferstehung. In Communities und Chat-Foren treffen Gleichgesinnte aufeinander, lernen sich kennen, reden, diskutieren, streiten, schimpfen. Das ist soziale Interaktion in einem Ausmaß und einer Qualität, die weit über das ein­fältige Kneipengespräch über Fußball oder über die einsilbige Kommunikation von „Couch Potatos“ über das kümmerliche TV-Programm hinausgeht.

Diese Wiedergeburt der Schriftsprache, deren Niedergang von Philologen seit Jahrzehnten beklagt wird, steht im Zusammenhang mit dem Verdrängungswettbwerb der Medien, den Forscher in Amerika bereits deutlich ausgemacht zu haben glauben. Dort verbringen junge Menschen zwar immer mehr Zeit vor dem Bildschirm, sehen dafür aber weniger fern. Das Internet kann zumindest in dieser Zielgruppe zu Lasten des Konkurrenzmediums Fernsehen gehen, was man nun beklagen oder begrüßen mag: Auf jeden Fall ist klar, dass durch die Ausbreitung des Internets die Anzahl der Alternativen größer geworden ist – und damit die Wahlfreiheit des mündigen Bürgers.

Und noch eins: Im Internet sind alle gleich. Gerade die vielbeklagte Anonymität des Computerbenutzers ist für manche der eigentliche Reiz. Hier gibt es nicht groß und klein, arm und reich, hübsch und hässlich, krank und gesund. Man(n) kann frau sein oder umgekehrt, je nach Belieben. Der Ängstliche produziert sich als Draufgänger. Der Scheue spielt den Salonlöwen. „If you can imagine it, you can do it“ („wenn du’s dir vorstellen kannst, dann kannst du es auch tun“) sagt der Zukunftsforscher Paul Saffo. Er meint aber nicht irgendein fernes Morgen, sondern das Hier und Heute im Internet. Das ist ja in erster Linie ein Kommunikationsmedium, doch den wenigsten ist klar, was das wirklich bedeutet.

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