„De Zoch kütt“. Und dann: „Kamelle“ so riefen wir als Kinder im Karneval (und nicht nur am Rhein!) und hofften, dass die Narren auf den großen Wagen im Umzug selbige im hohen Bogen über unsere Köpfe warfen. Das taten sie dann auch. Damals vielleicht noch mehr als heutzutage.
Wir wuselten zwischen den Füßen der Erwachsenen herum, sammelten die Bonbons vom Pflaster auf, stopften sie in unsere Anoraktaschen und freuten uns daheim über fette Beute.
Das ist heutzutage im Karneval sicher nicht anders, wie ich mal vermute. Überprüfen kann ich das nicht, denn hier im bayerischen Fasching sind weder Umzüge noch das Werfen von Kamelle Brauch. Mit Wurfmaterial ist in Bayern kein Geschäft zu machen.
Längs der Routen der großen Umzüge werden sicher auch hete noch tonnenweise billige Süßwaren aus der Metro heruntergeworfen, ganz selten gibt’s vielleicht auch mal etwas Besseres: „Strüssche“ für die Damen im Rheinland, für die Herren gern auch mal einen „Kurzen“. Blumensträußchen und Schnapsfläschchen wurden aber dann nicht geworfen, sondern den Jecken vom Wagen heruntergereicht. So weit reichte die Verantwortung dann doch…
Besonders pfiffige Eltern, die ihren Kindern etwas Gutes tun wollten, spannten einen Regenschirm auf und hielten ihn umgekehrt in die Höhe. Statt REttungsschirm ein Beuteschirm: ein Fanginstrument für „Kamelle“ im großen Stil, ein Ärgernis für die Kinder drum herum, die deutlich benachteiligt wurden. Zum Glück aber waren die Schirme für nicht wenige Bonbonwerfer ein Grund, die begehrten Süßigkeiten in eine andere Richtung zu verteilen. Ja so war das, damals im Karneval an der Ruhr.

„Kamelle“ mag auch Claudia Roth gerufen haben. Jedenfalls hagelte es am Wochenende virtuelle Süßwaren: Bei der Urwahl wurde Grünen-Chefin Claudia Roth von den Parteimitgliedern abgewatscht, auf Twitter wird sie von Sympathisanten mit Lob und guten Wünschen überschüttet. #Claudiamussbleiben, heißt die häufig geäußerte Forderung – und ein Parteifreund erfindet sogar ein neues Wort für die Solidarität im Netz. meldet die Süddeutsche Zeitung online. Andere Medien entsprechend.
„Besonders berührt hat mich etwas, was ich bislang nicht kannte: ein Candystorm“, sagte Roth bei ihrem Auftritt vor der Presse am Montagmorgen, so die Süddeutsche weiter.
Das ganze Wochenende hatten nicht nur über Facebook sondern vor allem über Twitter ihre Fans Claudia Roth ermuntert, sie solle sich trotz der Urabstimmung erneut zur Wahl stellen. Hashtags wie #Claudiamussbleiben oder #claudia2moreyears leiteten die Fans in die entsprechende Richtung.

Was aber ist ein Candystorm? Ein neues Wort, ein neues Wort. Die Digital-Lebendigen können sich freuen, ein weiterer Terminus wird es demnächst ins Lexikon der Fachwörter zu Werbung, Marketing und Kommunikation im digitalen Zeitalter bringen.
Impulsgeber war Volker Beck, ebenfalls grüner Spitzenpolitiker, der bei Twitter die Frage stellte „wie nett man das Gegenteil eines shitstorms?“ (und ja: er schrieb wirklich nett!)
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Der Vorschlag war „Candystorm“. Das wiederum hat Claudia Roth in der Pressekonferenz genutzt, und schon war ein neues Wort geboren.
Die Googlesuche verweist fast ausschließlich auf diese Pressekonferenz und schlägt als Alternative „Sandy Storm“ vor. Was wieder ein ganz anderes Thema wäre. Hier also ein Terminus technicus in statu nascendi – falls jemand sich über den Denglish-Überhang echauffiert. Schauen wir bewundernd hin und beobachten, wie es wachsen, sich verbreiten und in absehbarer Zeit von jedermann genutzt wird. Von uns auch.
Candystorm! Willkommen in unserer Welt. Ich bin sicher, wir werden noch oft von Dir hören.
Vielleicht hat Claudia Roth, immer ein wenig schrill, immer ein wenig lustig, immer ein wenig laut und einen Tick zu bunt, ja doch bei den Karnevalisten abgeschaut und insgeheim gerufen „Kamelle! Kamelle!.“ Wie passend, da doch gestern der 11.11. und damit Karnevalsbeginn war.  Roth hoffte und dann stürmten sie los, die Candies. Ein Hagelsturm an Zuspruch, ermunternden und aufbauenden Worten, an Anfeuerung und Streicheleinheiten für Seele und Ego. Helau! Alaaf!
Und wie ging das damals in unserer Kinderzeit im Karneval aus, wenn der Kamellehagel (das Urmodell des Candystorms, durch und durch analog und real) vorbei war? Die Beute wurde daheim begutachtet und geteilt: Zähe Klümpchen, die einem fast die Blomben aus dem Mund gezogen hätten oder steinharte Bonbons mit grausigem Geschmack, zersplittert im Papierchen, nachdem sie auf der Straße aufgeschlagen warn. Nicht wirklich irgendetwas, was zum Naschen oder Genießen geeignet gewesen wäre. Gegessen hat sie nie jemand. Masse statt klasse.

Bild: © copyright 2012 by Kölner Karneval

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