Alles hat seine Zeit
Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:

töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;

zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;
lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.

charlie-hebdo-anschlag-twitter-solidaritaet-je-suis-charlie-540x304Hochkomplex, hochphilosophisch, hoch poetisch und viel zitiert. Dem Nachfolgenden ausgerechnet einen Bibeltext voranzustellen (Pred 3. 1-8) geschieht nicht ohne Grund. Denn alles hat seine Zeit. Und vieles, was man tut, tut man zur Unzeit. Das ist mir gestern wieder einmal klar geworden angesichts der Schockreaktionen, der Empörung, Wut und Frustration, die auf die brutalen Morde in Frankreich erfolgt sind. Aber keine Angst, das hier ist keine Predigt.

Einen Abend und eine halbe Nacht habe ich im Netz verbracht, Beiträge gelesen, Kommentare und Leitartikel, Kommentare auf Kommentare, Tweets und Facebook-Posts. Dieser Terror-Anschlag auf freie Meinungsäußerung hat viele Menschen bewogen, das, was sie fühlen, in Worte zu kleiden. Gestern veröffentlichte ich den Text Je suis Charlie  auf dieser Plattform. Hängen geblieben ist dieses hier:

Weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit.

Gestern war Zeit, zu weinen. Viele Twitterer haben das verstanden und haben sich in ihrer sonst so zynischen, gehässigen Art sehr zurück gehalten. Eine aber nicht. Sie wollte einen Witz machen.

jsc4Anders kann man das Smilie-Zeichen ; ) nicht interpretieren
Der Witz ist so kräftig misslungen, dass es mediale Prügel und Twitterprügel gab… und das zu Recht. Denn Erika Steinbach, immerhin Mitglied des Bundestages und im Ausschuss für Menschenrechte, meinte ihren Scherz dann auch noch verteidigen bzw. erklären zu müssen.
jsc5Ich bin ehrlich: Diese Rekation kotzt mich an. Das ist nicht nur geschmack-, das ist takt- und bodenlos.

Wie wohltuend, wenn J.K. Rowling, Autorin der Potter-Bücher, ihre Popularität auch auf Twitter nutzt, um in ein ganz anderes Horn zu stoßen.

jsc1Mir klingt eine Passage aus Peter Gabriels Song „Biko“ im Ohr, seit Stunden. Damals ging es – wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen – um eine Kampfansage für die Freiheit:
You can blow out a candle
But you can’t blow out a fire
Once the flames begin to catch
The wind will blow it higher

Nichts anderes zeigt diese Zeichnung. zu Recht.

Am meisten aber hat mich ein Facebook-Eintrag eines amerikanischen Journalisten bewegt: Ahmed Shirab-Eldin. Ich habe nie vorher diesen Namen gehört. Aber Twitter spült gottseidank hin und wieder wertvollste Gedanken in mein Leben. So auch diesen Text, der über Twitter durch die Welt geistert und hoffentlich viel gelesen wird.

jsc2Es geht nicht nur um Charlie. Es geht auch um Ahmed, den Polizisten, den Muslim. Um das Recht auf Leben, um das kategorische Verbot, andere Menschen zu töten. Das zu sagen, scheint Ahmed Shirab-Eldin in Erklärungsnöte gebracht zu haben.

jsc3

Dass Ahmed Shirab-Eldin diese Erklärung überhaupt abgeben muss, ist schlimm genug. Dass gewählte Volksvertreter wie Erika Steinbach solche Äußerungen von sich geben, auch.

Manchmal frage ich mich in was für einer Welt wir eigentlich leben? Und in was für einer Zeit? In einer Zeit zu kotzen… über so viele Idioten, die mit uns diesen Globus teilen und denen wir nicht aus dem Weg gehen können. Ist das die Antwort?

2 Antworten

  1. Nein, das ist nicht die Antwort. Denn es gab im überall und zu allen Zeiten Idioten. Wir hören nur mehr über sie – das ist die Kehrseite der neuen Kommunikationsfreiheit.

  2. Ist es erlaubt, zu mutmaßen, dass die abscheulichsten Verbrechen in der Welt von den spektakulären Verbrechen überdeckt werden?
    Ist es wahr, das Medien informieren? Ist Information Wissen?
    Kann es sein, dass die Information über spektakuläre Ereignisse, die Verwechslung von Ursache und Wirkung festigt?
    Ist es so tragisch, den Rassisten, Fremdenfeind oder religiösen Eiferer in sich selbst zu erkennen?
    Ist es so schwer, mit dieser möglichen Tatsache umzugehen und leben zu lernen? Oder ist es so, dass man den abscheulichen Gnom in sich abspaltet und auf andere Menschen oder Kulturen projiziert?
    Und wenn es so ist: Sind meine Urteile die richtigen?
    Und wenn es nicht so ist: Sind dann meine Urteile die richtigen?
    Es ist Zeit, darüber nachzudenken!

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