Das jüngste Opfer des Internet könnte das alte angelsächsische Rechtssystem werden. Und schuld ist unter anderen Twitter, der Blackberry und vor allem Google.

Vergangene Woche platzte in Florida ein großer Drogenprozess, weil ein Geschworener zugegeben hatte, Einzelheiten zu dem Fall im Internet recherchiert zu haben. Als der Bundesrichter, William J. Zloch, nachbohrte, stellte sich heraus, dass acht weitere Juroren ebenfalls die Beweislage online überprüft hatten. Da aber seit 1000 Jahren ehernes Gesetz ist, dass die Juroren nichts außer den ihnen im Gerichtssaal präsentierten Fakten und Beweisanträgen bei ihrer Urteilsbildung heranziehen dürfen, blieb Richter Zloch nichts anderes übrig, als die Geschworenen nach Hause zu schicken und einen neuen Prozesstermin anzuberaumen.

Wie John Schwartz von den New York Times berichtet, ist das beileibe kein Einzelfall. Auch in der Heimat des „trial by jury“, Großbritannien, muss man sich inzwischen mit dem Problem herumschlagen. Einer der Geschworenen in einem britischen Vergewaltigungsprozess wurde kürzlich überführt, seinen Blackberry für Internet-Recherchen verwendet zu haben, was zu einem Freispruch führte. Der oberste britische Strafrichter, Lord Igor Judge of Draycote , warnte kürzlich in einer Rede vor dem Oberhaus, dass Geschworenen zunehmend dazu neigen, „private Erkundigungen“ übers Internet zu unternehmen, obwohl ihnen das vom Gericht explizit verboten werde. Die nachwachsende Generation von Briten, so Lord Judge, sei womöglich als Geschworene gar nicht mehr zu gebrauchen.

Das wäre das Ende einer langen, ruhmreichen Tradition. Seit 1166, als Heinrich II von England Angeklagten offiziell das Recht zusprach, sich vor einem Geschworenengericht zu verantworten, werden unbescholtene Bürger in Großbritannien und den USA ausgewählt, um in schwerwiegenden Fällen über Schuld oder Unschuld zu entscheiden, und zwar so objektiv wie möglich. Wie jeder Kenner amerikanischer Krimifilme weiß, tun sich Richter und Anwälte bei der Auswahl der Juroren oft schwer, denn sie sollen unbefangen sein, was in den meisten Fällen gleichbedeutend ist mit uninformiert. Als der Footballstar OJ Simpson 1994 wegen Mordes an seiner Frau und deren Liebhaber in Los Angeles vor Gericht stand, dauerte es Wochen, bis zwölf Männer und Frauen gefunden werden konnten, die angeblich nichts von dem Fall gehört hatten oder sich zumindest noch keine Meinung dazu gebildet hatten.

Es gibt keinen einfachen Weg, solche „Unsitten“ zu verhindern, sagen Juristen. Man könnte natürlich den Juroren vor der Sitzung die iPhones und Blackberrys abnehmen, aber bei mehrtägigen Prozessen dürfen die Sequestrierten meistens Abend nach Hause, wo der PC steht. Und wer als Geschäftsmann zum Gerichtsdienst abkommandiert worden ist, muss in der Lage sein, wenigstens zwischendurch seine E-Mails zu checken.

Auch strenge Ermahnungen scheinen nicht zu fruchten, wie die sich häufenden Fälle beweisen, in denen surfende Geschworene von ihren online-abstinenten Mit-Juroren verpetzt werden. So wie der 29jährige US-Amerikaner Johnathan Powell, der als Geschworener in einem Prozess mitwirkte, bei dem eine Baufirma namens Stoam Holdings zu zwölf Millionen Dollar Schadensersatz verurteilt wurde und offenbar während der Beratungen mehrere Twitter-Nachrichten abschickte, darunter eine, in der schrieb: „bloss nicht stoam kaufen. die sind jetzt um 12 millionen leichter“. Kurz bevor sie der Richter zur Urteilsverkündung hinausrief, twitterte er noch schnell: „also johnathan, was hast du heute so gemacht? Ich habe ZWÖLF MILLIONEN DOLLAR verschenkt, die jemand anderem gehören“.

Der Mann mag ja ein Vollidiot sein, aber dieser und andere Fälle werfen Fragen auf. Zum einen natürlich die, ob das Recht des freien Bürgers darauf, von „zwölf Seinesgleichen“ gerichtet zu werden, noch zeitgemäß ist. Außerhalb des angelsächsischen Kulturraums ist das System ja auch so gut wie unbekannt, auch wenn die alten Athener es angeblich schon 500 vor Christus verwendet haben. In Deutschland wie in anderen Ländern überlässt man das Rechtsprechen lieber ausgebildeten Profis oder gibt dem Richter allenfalls ein paar mehr oder weniger fachkundige Schöffen zur Seite.

Wichtiger scheint mir die Erkenntnis zu sein, dass die Informationsbeschaffung per Internet inzwischen sozusagen zu einem natürlichen Bedürfnis geworden ist, ein unverzichtbarer Teil unseres beruflichen und privaten Lebens. Wir wollen es genau wissen, und wir wollen nicht mehr warten, bis wir daheim sind oder im Büro, wo wir es nachschlagen oder jemanden fragen können.

Das hat massive Folgen für unsere Verhaltensmuster. Vom Kreuzworträtsellösen bis zur Stammtischwette: Das Internet hat die Art, wie Menschen zumindest in den entwickelten Ländern mit Alltagssituationen fertig werden, inzwischen massiv verändert und tut es weiterhin. Wir überlegen nicht mehr lang, sondern gehen sozusagen instinktiv online.  „Ich denke, also surfe ich“ wäre vielleicht eine passende Überschrift für das gegenwärtige Kapitel der Menschheitsgeschichte.

Doch diese radikale Demokratisierung der Informationsbeschaffung hat auch seine Schattenseiten, und die werden am Beispiel des Jurorensystems besonders deutlich. In einem Gerichtsprozess geht es um die Wahrheit, und um Beweiskraft zu haben, müssen die Fakten besonders zuverlässig sein. In der Praxis heißt das, dass beide Seiten – Anklage und Verteidigung – die Gelegenheit haben müssen, sie zu hinterfragen. Zieht ein Geschworener auf eigene Faust los und sucht sich in den Weiten des World Wide Web seine eigene Wahrheit, verstößt er gegen das Fairnessgebot. Als Laie ist er außerdem wohl kaum in der Lage, die Relevanz einer im Internet gefundenen Information abzuwägen. Genau aus diesem Grund ist eine der Aufgaben eines Richters in einem Geschworenenprozess, die Juroren zu unterrichten und sie notfalls auch anzuweisen, bestimmte vorgebrachte Beweisanträge nicht in ihre Überlegungen einfließen zu lassen, sie also sozusagen aus ihrem kollektiven Gedächtnis zu löschen.

Das alles ist natürlich vor dem viel größeren Hintergrund der Frage zu sehen, wie verlässlich das Internet als Informationsquelle überhaupt ist. Weil Wikipedia wie ein Lexikon aussieht, neigen viele Menschen dazu, sich genauso darauf zu verlassen wie auf den „Großen Brockhaus“ oder die „Encyclopedia Britannica“. Nur, dass Wikipedia eben nicht vor der Veröffentlichung von anerkannten Fachleuten gegengeprüft wird, sondern allenfalls anschließend und auch dann nicht nur von Experten, sondern von jedermann. Die Diskussion um die Validität von wissenschaftlichen Veröffentlichungen im Internet tobt schon seit Jahren. Es mag ja stimmen, dass Studieninhalte und neue Erkenntnisse in einem Online-Journal schneller und billiger veröffentlicht werden können, und vielleicht rettet es sogar Menschenleben, wenn der Aufsatz über einen neuen Forschungsansatz im Kampf gegen Krebs nicht erst den langen Marsch durch die Sachverständigenprüfung gehen muss. Aber dafür ist zumindest halbwegs sichergestellt, dass es sich um eine seriöse Arbeit und nicht um die Ergüsse irgendeines wissenschaftlichen Scharlatans handelt.

In „Generation Internet: Die Digital Natives “ beschreibt der Autor John Palfrey von der Harvard-Universität, wie schwer sich die Internet-Eingeborenen – also diejenigen, die sozusagen mit dem Internet groß geworden sind – mit der Entscheidungsfindung tun. Sie seien gewohnt, sich eher zu viele als zu wenige Informationen aus dem unerschöpflichen Faktenbrunnen des World Wide Web zu schöpfen. Wichtige Entscheidungen werden dadurch häufig zu spät oder gar nicht getroffen.

Jetzt sitzen schon die ersten Digital Natives in der Jury – und zwei Welten prallen aufeinander. Einer wird nachgeben müssen. Und es wird bestimmt nicht das Internet sein.

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