Terror tv

„Wir hatten Bilder, meist Bruchstücke, mit Handy-Kameras aufgenommen. Oft aus einer Deckung heraus. Fetzen von Informationen. es war erst einmal nicht viel, aber es hätte gereicht, eine Sendung voranzutreiben, notfalls mit zigfacher Wiederholung des immer wieder selben Materials. Doch was wäre das für eine Sendung geworden?“ (Claus Kleber, Süddeutsche Zeitung von heute)

Claus Kleber spricht nicht von gestern. Er spricht von der Berichterstattung über den Putsch in der Türkei. Ja, was wäre das wohl für eine Sendung geworden? Ungefähr so eine, wie die Tagesschau von gestern, die nahtlos in die Tagesthemen überging: Die immer gleichen Handy-Videos in Endlosschleife, die immer gleichen Statements mit Null-Aussagen. Kurz nach acht Uhr durfte ein Experte den Anschlag von München analysieren. Zu dieser Zeit wusste man nicht, wie viele Täter, wie viele Opfer, wie viele Tatorte, welche Motive. Man wusste nichts, man hatte nichts, aber man sendete. Auf allen Kanälen.

Vor 15 Jahren, an 9/11, machte RTL den öffentlich-rechtlichen Sendern vor, wie aktuelle News-Reportagen funktionieren. Darauf weist ZDF-Nachrichten-Profi Claus Kleber in einem lange geplanten Gastbeitrag heute in der Süddeutschen hin.  Als er diesen Artikel verfasste, konnte er die Vorfälle von gestern nicht einmal erahnen. Umso wertvoller ist sein Beitrag, den lesen muss, wer sich für Medien interessiert! Denn er plädiert für eine gründliche und sachliche Nachrichtenaufbereitung in den öffentlich-rechtlichen Medien. „Es ist niemandem geholfen, wenn die Öffentlich-Rechtlichen sich mit ihren traditionell ausgestrahlten Programmen auf ein Rattenrennen mit SocialMedia einlassen. Oder Netzfunde unreflektiert weitergeben.“ Aber genau dies geschah gestern: das Rennen der Ratten auf allen Kanälen und in allen Rennbahnen.

„Es ist schon alles getwittert, nur noch nicht von allen“ (frei nach K.V.)

Man musste gar nicht selbst das Twitterland durchreisen. Man konnte ja in der Tagesschau hören, dass eine Skirennläuferin mit ihren Gedanken gerade in München ist, dass das Schwabinger Krankenhaus seine Ärzte aufgefordert hat, „den Toten zu helfen“, dass es weitere Schießereien am Karlsplatz UND am Münchner Stachus gebe. Eine unseelige Mischung aus Belanglosigkeiten – die Dame ohne Ski – und hektischem Irrsinn – der ganze widerliche Rest.

Selten wurde in den Öffentlich-Rechtlichen so umfassend so wenig berichtet, wie gestern Abend. Dass man mit Unwissen und Leere Programmstunden füllen kann, nie zuvor war dies deutlicher zu sehen. Am ehesten hat mich das noch an die langen Stunden der Mondlandung berichtet. Auch da gab es nichts zu berichten, aber es galt Stunden zu füllen. „Ist Armstrong draußen?“ „Nein, Armstrong ist noch nicht draußen.“ „Wir wissen nicht, wann Armstrong draußen sein wird.“ „Wenn Armstrong draußen wäre, wo wäre er?“ „Er wäre draußen.“ „Wissen wir denn, warum …“ Ach Wolfram Siefert Günter Siefarth [zur Korrektur siehe Kommentar] – das wäre gestern dein Abend gewesen …

Die hektische Beredsamkeit der sozialen Medien trieb die ARD in den quotenträchtigen Laberfunk und zugleich die Menschen in München in die Hysterie. Schwer bewaffnete Polizisten mussten den Marienplatz räumen, weil Twitterati dort Terroristen gesehen hatten. Gleiches geschah am Odeonsplatz, am Stachus, am Isartorplatz. Die sozialen Medien haben die Hysterie befördert und ein schlimmes Ereignis verschlimmert.

Vor Jahren waren wir noch von der Illusion beseelt, die Sozialen Medien würden Öffentlichkeit herstellen, würden investigativen Journalismus befördern, wären Instrumente zur kollektiven Wahrheitsfindung und zur Organisation von Gegenöffentlichkeit. Heute müssen wir konstatieren, dass sie eher Hysterie und Panik befördern, dass sie jedenfalls im Krisenfall das Hirn ausschalten und schnell aus Menschen bewusstlose Massen machen. Facebook und Twitter sind die Verstärker der Orientierungslosigkeit. Und sie nötigen mehr und mehr die traditionellen Medien in einen fatalen Wettstreit um Pseudoschnelligkeit.

Die Hetzer heizen den Horror an

Im Windschatten der allgemeinen Hysterie segelten natürlich auch wieder die üblich-üblen Hetzer. Petry will nicht mehr normal sein:

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Die Islamophoben machen Stimmung:

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Der Volkssturm macht Renate Künast und andere kritische Politiker und Politikerinnen einmal mehr zur Zielscheibe:

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Das kennen wir aber schon: Das Netz ist auch ein Sammelbecken gefährlicher Hetzer und Demagogen. Ereignisse, wie das Attentat von gestern verschaffen denen, die nach Recht und Ordnung schreien und Tod und Unfreiheit meinen, das Gehör der Stummen. Aber das ist nicht das einzige und nicht das wirkliche Problem.

Der Wahn der Bedächtigen

Die unheilvolle Wirkung der Sozialen Medien in Krisensituationen beschränkt sich nicht auf Geschwätzigkeit, Hysterisierung und Hetze. Auch die bedächtigen Mitbürger des Netzes befördern  die Kommerzialisierung und emotionale Verbreitung des Terrors. 100 meiner Facebook-Freunde teilten gestern per SafetyCheck mit, dass sie in Sicherheit seien. Ich bin NICHT in Sicherheit!

Mein Czyslansky-Freund Tim Cole hält dieses Tool für „einen Lichtblick“. Ich bin da anderer Meinung. Hier kocht Facebook mit einem pseudo-feinen Tool sein kommerzielles Süppchen. München hat mehr als eine Million Einwohner. Es gab einen Anschlag, der örtlich gestern Abend kaum eingegrenzt war. Die Gefahr als Münchner von diesem Terrorakt persönlich mit Tod oder Verletzung betroffen zu sein, war aber sehr gering. Jedenfalls stand dieses individuelle Risiko in keinem Verhältnis zur facebookmedialen Aufmerksamkeit und zum Aktivitätsniveau auf dem SafetyCheck. Meine Tochter hat ein Jahr in Israel gelebt. Sie hätte den SafetyCheck eigentlich alle paar Stunden ausfüllen müssen. Hätte es mich beruhigt? Natürlich nicht. Aber klar doch: Wäre meine Tochter gestern Abend in München gewesen, ich hätte mir Sorgen um sie gemacht. Wäre sie im OEZ gewesen, ich hätte versucht sie anzurufen.

Aber das tausendstimmige  „Ich bin sicher“ verstärkt die Hysterie und unterstützt die mediale Aufmerksamkeit, die Terroristen oder Amokläufern zukommt über das Notwendige hinaus. Ein Tool wie SafetyCheck ist in bestimmten Situationen sinnvoll: wenn die Gefahrensituation klar eingegrenzt ist oder wenn es eine große unüberschaubare Zahl von Opfern gibt. Sollte es morgen Abend einen Giftgasangriff auf die Münchner Oper geben – wer hat den „Opernball“ nicht gelesen – dann werde ich mitteilen, ob ich sicher aus meiner Loge klettern konnte. Versprochen! Leichtfertig in die Welt gesetzt unterstützen solche Tools aber nur die allgemeine Hysterie. Vor den direkten Auswirkungen individuellen Terrors sind wir alle weitgehend sicher. Vor den gesellschaftlichen Veränderungen, die der Terror und unsere Aufgeregtheit befördern, werden wir niemals sicher sein. Wir sollten den Terror, also seine Ursachen, bekämpfen. Und wenn wir das nicht können, dann sollen wir leben, einfach leben; und ja: weitermachen wie bisher!

Wir sollen leben und mal still sein

Ich weiß nicht, ob der kleine und große Terror bei uns nun Alltag wird, wie er es in vielen Regionen dieser Welt längst ist. Zu beklagen bräuchten wir uns nicht. Am Terror in anderen Ländern sind wir alle ja nicht unschuldig. Aber ich weiß, dass wir unser Leben nicht auf den Terror einstellen dürfen, wenn der Terror nicht siegen soll.

Ich wünsche mir bei einem Anschlag gründlich recherchierte aktuelle Nachrichten und gründliche Analysen, die die Zeit erhalten sollten, die sie nun einmal benötigen. Und ich wünsche mir, dass wir, die wir nichts wissen und nichts gesehen haben, auf Twitter einfach mal den Mund halten. Es interessiert mich nicht, dass meine Freunde mit ihren Gedanken bei den Opfern sind. Dass das so ist, davon gehe ich aus. Sonst wären sie nicht meine Freunde. Je suis Munich. Spekulationen ohne Informationen interessieren mich nicht. Und wenn ich wissen will, ob Ihr in Sicherheit seid, dann rufe ich euch an. Versprochen. Und im Fernsehen wünsche ich mir eine hübsche Sendung mit Tieren statt Endlosenschleifen vom Handy. Und wenn vernünftige Menschen wie Claus Kleber dann vor der Kamera etwas zu sagen haben, dann will ich ihm aufmerksam zuhören. Bis dahin aber wird er hinter der Kamera seinen Job tun.

Überlasst Twitter denjenigen, die etwas zu sagen und zu organisieren haben. Der Twitter-Kanal der Münchner Polizei ist professionell und hilfreich. So wie der ganz ausgezeichnete Pressesprecher der Münchner Polizei mit dem wunderlichen Namen Marcus da Gloria Martins professionell und seriös war und ist. Auch die Organisation der Sicherheitsbehörden – bis hin zur vorbereiteten Evakuierung zentraler Risikolagen wie dem Hauptbahnhof – war eindrucksvoll.

Rechtzeitig statt echtzeitig

Ich habe mich gestern frühzeitig aus dem sozialmedialen GeTwitter ausgeklinkt und „das Maul gehalten“. Und das ist gut und richtig. Wir sollten uns und andere weniger aufregen. Wir sollten nicht immer versuchen alles schneller und besser zu wissen. Es muss nicht sein, dass jeder, aber auch wirklich jeder, seine Betroffenheit in die Welt schreit. Später mischen wir uns ein und nutzen die sozialen Medien zum Diskurs und zur Partizipation. Später. Rechtzeitig statt echtzeitig.

 

 

7 Antworten

  1. Einmal mehr ein wichtiger und richtiger Beitrag, der mir vollends aus der Seele spricht. Auch ich habe – wie auch zu all den anderen schrecklichen Taten der Vergangenheit – sozial „mein Maul gehalten“.

    Allein eine in den schier unendlichen Weiten des Social Media ganz sicher verhallte Bitte konnte ich mir nicht verkneifen (eher im Wissen, dass meine Wut dadurch ein Ventil fand, als dass ich geglaubt habe, etwas mit diesem Tweet zu erreichen): Die Bitte, dass diese Wichtigtuer, Besserwisser, Egomanen und Narzissten dieses verfluchte Verbreiten von „Livebildern“ über die sozialen Kanäle sein lassen mögen.

    Taktische Schritte der Sicherheitskräfte – einfach mal so auf Twitter. Zusammenzug der Sondereinsatz-Kommandos – detailliert bei Facebook. Ein Überblick zur Mannstärke der hinzugezogenen GSG9 – in HD via Snapchat zu sehen. Das dient außer dem eigenen, verfluchten Ego niemandem. Hier wünsche ich mir – auch wenn der eine oder andere Demokrat jetzt schluckt – einen „Not-Aus-Knopf“ für Social Media. Geht ja auch in der Türkei, in China, in Südamerika – also vielleicht auch demnächst bei derlei unübersichtlichen Gefahrensituationen in Deutschland/Bayern/München oder wo auch immer!

  2. Manchmal ist sogar eine Kritik über zu schnellen TV-Journalismus zu schnell geschrieben. 😉

    Unser Mann bei der Mondlandung hieß nicht „Wolfram Siefert“, sondern Günter Siefarth.

  3. Oh ja. Sorry. Ist halt doch schon lange her. Ich war damals 10 Jahr alt und als Fernsehkritiker wohl auch ein wenig übernächtigt 😉 Danke für die Korrektur.

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