Ostermarsch mal anders (Murcia 2012)

Ich habe tatsächlich einmal in Berlin studiert. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich für links gehalten. „Damit kommst Du hier nicht durch, Kollege“, hatte mich der Fachschaftler eingenordet, als ich es wagte, nicht sofort begeistert meine Teilnahme an den alljährlich stattfindenden spontanen Ostermärschen zuzusichern. „Bei Dir kommt so einiges zusammen, erst aus Bayern sein und dann noch unsolidarisch. Du bist sicher insgeheim son Nazi“.

Klar, daß ich bei der Gelegenheit keine Lust hatte, über Sinn und Unsinn von Ostermärschen zu diskutieren. Auch klar, daß ich heilfroh sein mußte, daß ich nicht erwischt worden war, daß mein Kaffee nicht aus Nicaragua kam und ich mir zur Atomkraftfrage noch keine abschließende Meinung gebildet hatte. Und als ich wieder im Westen war, war ich sicher: Lang hält sich Westberlin nicht mehr. Das mutiert sicher in die DDR. Doch es kam anders, wir alle sind zu so einer Art Totalitarismus mutiert.

Heute halte ich es nicht für übertrieben, wenn ich bei diesen Vorfällen an die Heilige Inquisition denken muß. Irgendwo sitzen Leute und sagen, was zu denken und zu tun sei. Denkverbote, Zensur, Gleichschaltung. Das ist sicher ökonomisch, denn wenn schon klar ist, was richtig ist, muß man nicht alle verunsichern und immer wieder drüber nachdenken, alles in Frage stellen. Reine Zeitverschwendung. Aber vielleicht gibt es Menschen, die gerne selbst denken, die sich ihre Meinungen frei bilden wollen und nicht das übernehmen, was ihnen andere vorschreiben? Und vielleicht tragen diese Menschen ihr Herz auf der Zunge und sagen, was sie denken, auch wenn es mal nicht Mainstream ist? „Hier stehe ich und kann nicht anders“ – das gibt es doch immer noch, oder?

Ich jedenfalls will darüber nachdenken, ob Israel ein Schurkenstaat ist (glaube ich nicht), ob Frauen über Quoten in Aufsichtsräte und Vorstände kommen sollen (glaube ich nicht), ob das Internet ein rechtsfreier Raum ist (ist es nicht, im Gegensatz zum Straßenverkehr, aber das Internet bietet wie jede neue Technik auch Betrügern neue Geschäftsmöglichkeiten), ob wir unser Klimaproblem mit Nukleartechnik lösen können (bei unserem Umgang mit dem Thema sicher nicht) und ob es überhaupt ein Klimaproblem gibt, das wir Menschen beeinflussen könnten (halte ich für überheblich). Ach ja, Klima! Menschen, die so etwas sagen, werden Klimaleugner genannt. Das rückt sie in die Nähe der strafbaren Holocaustleugnung, man muß mit ihnen nicht diskutieren. Womit wir wieder bei der Inquisition sind.

Die, die sich nicht an die meist ungeschriebenen Gesetze halten wollen, weil sie einfach nur frei denken wollen, werden kaltgestellt. Vielleicht in unserer jetzigen Zeit nicht gleich kaltgemacht, aber die Grenze ist fließend. Nicht das Falsche sagen, nicht auffallen, solange man nicht Mainstream ist. Nicht politically correct. Woher kommt es denn, daß Menschen so erpicht darauf sind, Andersdenkende nicht nur zu überstimmen, sondern sie zu überschreien? Sie mundtot zu machen – ein Wort übrigens, das tief blicken läßt. Da genügt es oft schon, jemanden in eine bestimmte Ecke zu stellen und niemand wird ihm mehr zuhören. Aus nackter Angst. Also, was ist es in uns, in unserer Gesellschaft, was uns so sein läßt, oder übertreibe ich maßlos?

Bei Monty Python’s unsterblichen „Das Leben des Brian“ wird man fündig, es ist die Stelle „Er hat Jehova gesagt“. Jehova sagen, einer tut das von Berufs wegen, nämlich der Erzbischof Zollitsch aus Freiburg. Wie man dem Focus online entnimmt, hat er eine Predigt gehalten, in der das Internet verteufelt wird:

„Versklavender Götze unserer Zeit“: Erzbischof Robert Zollitsch warnt vor Gefahren des Internets

Montag, 09.04.2012, 13:22
Die Kirchen haben zu Ostern gute Ratschläge verteilt: Mit Hilfe des Glaubens sollen sich Christen von den Gefahren des Internets befreien. Zollitsch verglich das Internet mit Alkohol und Drogen.

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Es ist ein erstaunliches Faktum unserer Zeit, daß äußerst wenig Menschen bekennende Christen sind, noch weniger gehen regelmäßig in die Kirche, aber alle, wirklich alle Menschen, die einen Stift halten können, äußern sich zu Predigten oder sonstigen Aussagen kirchlicher Würdenträger. Kritisch natürlich, alles andere wäre ja verdächtig. Die besten Aufreger liefert der Papst, aber auch Erzbischöfe sind zuverlässige Lieferanten. Man muß nur ein bißchen warten, dann sagen sie schon irgendwas, das man kritisieren kann, wenn es auch manchmal nötig ist, es aus dem Kontext zu zerren.

Ist Ihnen schon mal aufgefallen: Wenn das Oberrabbinat in Jerusalem irgendwas von sich gibt, sagt keiner was. Ist das jetzt antisemitisch, weil nicht kritisieren heißt ja, auch nicht wahrnehmen, also ignorieren? Oder ist die Frage schon antisemitisch, nur weil die Worte „Rabbiner“ und „Jerusalem“ vorkommen, ohne die Phrasen von der besonderen Verpflichtung oder der schweren Schuld als beschwichtigende Garnitur anzubringen? Ich finde es übrigens gut, wenn sich jemand mit der besonderen Verpflichtung und der schweren Schuld beschäftigt. Ich finde es aber allmählich unerträglich, wenn es inhaltsleer und professionell betroffen gemurmelt wird, weil man das nicht anders sagen darf und kann. Soll ich jetzt zum Thema Günter Grass kommen? Nein, mir ging es ja um Herrn Dr. Zollitsch.

Also, frisch ans Werk, ich wollte ja nur sein Recht verteidigen, Unsinn zu reden. Das ist ein freies Land. Aber wer beschreibt meine Verwunderung, als ich seine Predigt in Händen hielt? Fündig wird man bei der Deutschen Bischofskonferenz, da kann man die Predigt nachlesen, St. Google sei Dank. Dann wird man aber die Suchfunktion des Browsers nutzen wollen, denn es geht überhaupt nicht um Internet. Es geht überraschenderweise um Ostern. Zwei Fundstellen sind es dann aber doch, in einer ganzen langen Osterpredigt, die in ihrer Gesamtheit dem Focus vermutlich zu verständlich war, denn er geht ausschließlich auf die Internetpassagen ein. Das ist die erste Stelle:

Liebe Schwestern, liebe Brüder! Jesus Christus will auferstehen in Ihrem und in meinem Leben! Er will uns befreien von den versklavenden Götzen unserer Zeit: von den Abhängigkeiten, die in Form von Drogen und anderen Süchten wie Alkohol, Medikamente oder auch Internet, in gefährlicher Weise lauern.

Tja, der Focus hat das nur überflogen. Nicht das Internet ist der versklavende Götze, wie der Redakteur glauben machen will, sondern Abhängigkeiten in Form von Süchten. Er nennt folgerichtig Drogen, Alkohol und Medikamente und setzt dann das rätselhafte „oder auch Internet“ hinzu. Er kann doch nur das meinen, was man gemeinhin als Internetsucht bezeichnet, nicht das Internet an sich. Wenn es so etwas wie eine Internetsucht gibt, ist es legitim, davor zu warnen. Fertig. Ob es das gibt? Ich bezweifle es in dieser generellen Form. Niemand hat Schweißausbrüche, klappert mit den Zähnen oder muß sich dauernd übergeben, wenn man ihm das Internet wegnimmt. Was Heroin angeht, glaube ich das eher. So etwas wissen wir von Christiane F. und den Kindern vom Bahnhof Zoo. Falls die nicht auch reine Fiktion waren.

Gut, das war jetzt eher nicht ergiebig, aber es gab ja noch eine Fundstelle:

Wie wichtig und notwendig es ist, uns einzumischen, wird deutlich, wenn wir uns bewusst machen: Wie oft missbrauchen Menschen ihre ihnen von Gott geschenkte Freiheit; wie viele beanspruchen Freiheit für sich und sprechen sie dem Anderen ab; ja wie viele gehen mit ihrer Freiheit verantwortungslos um. Freiheit ohne Verantwortung aber gleicht einer Autofahrt im Vollrausch. Man gefährdet sich und andere. Es muss uns nachdenklich stimmen, wenn manche Zeitgenossen im Schutz der Anonymität Meinungsfreiheit im Internet als Freibrief für Hetze, Diffamierung und Mobbing missverstehen.

Nun, was soll man da sagen? Das ist doch völlig richtig. Man kann sich drüber streiten, was den genau Missbrauch von Freiheit sei kann und wer das festlegt, aber im Prinzip trifft es das recht gut. Daß er nun sagt, daß die Kraft, die wir dafür brauchen, sich im Geheimnis von Ostern verbirgt, wenn man es nicht gerade vor lauter Ostereiern und Schokohasen aus den Augen verloren hat, dann ist das bei einem Mann der Kirche nicht verwunderlich.

Bleibt also nur die Frage, was der Focus eigentlich will. Den Osterfrieden stören? Die Leute gegen die Kirche aufhetzen? Sich wichtig machen? Oder einfach nur verantwortungslos Seiten füllen? Dann könnte es ja sogar sein, daß der Schreiber des Artikels sich in der Predigt von Herrn Dr. Zollitsch angegriffen gefühlt hat und der Artikel nichts anderes ist als eine billige Retourkutsche. Hoffen wir’s.

4 Antworten

  1. Ich bedanke mich für diese zutreffende Betrachtung. Kann die „Berliner Keimzellen Theorie“ nur aus eigener Erfahrung bestätigen. Als ich dereinst (80er) einen Mode-Revolutionär unter strikter Beachtung der operanten Konditionierung die Wirkweise der bayerischen Watschn demonstrierte, hieß es auch gleich, ich sei ein Reaktionär! Das habe ich damals nicht verstanden, denn in „der Sache“ waren wir gar nicht so weit auseinander.

  2. Werter svb,

    ganz Deiner Meinung – in fast allen Punkten. Um so glücklicher und dankbarer können wir sein, dass es Oasen im Netz gibt, in denen man sich ungeachtet des gesamten öffentlichen Krakelens, Niederschreiens und Mundtotmachens seinen Kopf, sein Denken und seine Meinung bewahren und diese auch äußern darf. Zweifelsohne gehört dieses Blog dazu.
    Es macht Spaß, Teil des Czyslansky-Teams zu sein, „Jehova!“ rufen zu können, wenn man es meint, es zu müssen. – ungeachtet einer „political correctness“. Aber wir wollen ja auch nicht vom Wahlvolk geliebt und wiedergewählt werden…
    Erlauben wir uns also weiterhin aus der Loge heraus unseren Sermon abzusondern, wissend, dass es doch der Eine oder andere liest und hoffend, dass selbiger ein wenig darüber nachdenkt…

  3. Was? Denken? Ich dachte ich solle die Botschaft Czyslanskys ungefiltert und unreflektiert weiterverbreiten? Mein Weltbild gerät ins schwanken, ich glaube ich BILDe mir demnächst mal meine eigene Meinung!

  4. Ach ja die Ostermärsche, ich erinnere mich dunkel daran, gut dass ich in den 80ern in München geblieben bin. Da gab es um Ostern herum, wenn die Sonne endlich wieder warm schien, wundervolle Aufmärsche zur Feldherrnhalle. Alle saßen wir mit unseren Ray-Bans und im modischen Sommeroutfit im Tambosi, was damals noch das Café Annast war in der Sonne und liessen den lieben Gott einen netten älteren Herrn sein und die Politik war uns so Wurst, wie die Atomkraft. Nur übers Klima machten wir uns Gedanken, wenn die Sonne hinter St. Kajatan verschwand und es kühl wurde …

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