Eigentlich sollte das Internet befreiend wirken. Als ich vor einigen Jahren mein erstes Buch über dieses Thema schrieb, „Erfolgsfaktor Internet“, habe ich das Internet mit den Volksempfängern im Dritten Reich verglichen, mit denen die Menschen in Deutschland heimlich BBC-Nachrichten gehört haben –  ein Fenster alternativer Informationen. Weil die Machtbasis totalitärer Regime in der Vergangenheit nur durch Gleichschaltung aller Medien und die möglichst lückenlose Überwachung ihrer Bürger zu erreichen war (siehe Orwells „Gedankenpolizei“), müsse die grenzenlose Freiheit der Online-Kommunikation zwangsläufig zu einem Abbau totalitärer Strukturen in Ländern wie China, Saudi-Arabien, Iran oder Irak (wo damals noch Saddam Hussein herrschte) führen.

Nun, gerade China hat gezeigt, dass es auch anders geht. Und nicht nur ich frage mich warum. Evgeny Morozov vom Open Society Institute in New York hat neulich in einem Meinungsbeitrag für die International Herald Tribune eine mögliche Antwort geliefert.

Ja, es stimmt, dass das Internet in einer offenen Gesellschaft wie beispielsweise den USA ein wichtiges Instrument der politischen Selbstermächtigung benachteiligter Gruppen und Schichten führen kann, sagt er. Dazu muss man nur anschauen, welche wichtige Rolle das Internet bei der Wahl Barak Obamas gespielt habe. Und auch in der Ukraine haben die Anhänger der „orangenen Revolution“ das Internet intensiv für sich genutzt. Dissidenten in Saudi Arabien und Ägypten nutzen Facebook, um Proteste zu organisieren. Und ja, auch in China nerven ein paar Online-Dissidenten die Obrigkeit mit ihren aufmüpfigen Blogs.

Das Internet macht einige zu „digital Regenades“ – digitale Rebellen. Ich kann das nachvollziehen. Es gibt nichts Schöneres für einen alten (Jahrgang 1950) Sack wie mich, als denen da oben in einem Blog-Post oder einem Kommentar so richtig die Meinung zu geigen. Ich habe seit den Heidelberger Straßenbahn-Demos anno 68 nicht mehr so viel Spaß daran gehabt, mich als Außenseiter und Aufrührer zu fühlen.

Aber betrachten wir die Sache mal von einer etwas rationaleren Warte: Das Internet, und das hat uns Armsessel-Rebellen so begeistert, versprach unaufhaltsamen politischen Wandel, den weltweiten Siegeszug einer liberalen, aufgeklärten Form von Demokratie, die selbst die abscheulichsten Diktaturen über kurz oder lang wegfegen musste.

Wenn das wirklich so wäre, dann müsste man heute, 20 Jahre nach dem beginnenden Durchbruch des Internet, ja einiges davon spüren. Aber das Gegenteil ist der Fall, so Morozov. Ja, die Berliner Mauer ist gefallen, aber dafür steht jetzt die chinesische Firewall. Was, so fragt sich Morozov mit erkennbarem Widerwillen, wenn das Internet keineswegs der Sprengstoff ist, der totalitäre Strukturen zerstört, sondern im Gegenteil der Mörtel, der sie zementiert?

Man dürfe nicht vergessen, so Morozov, dass das Internet gerade jungen Leuten in verschlossenen und streng überwachten Gesellschaften bislang ungeahnte Möglichkeiten gibt, sich zu unterhalten oder unterhalten zu lassen. Er zitiert aus einer Umfrage, wonach 32 Prozent der Chinesen behaupten, das Internet würde ihr Sexualleben bereichern; in den USA seien es nur elf Prozent. Digitaler Spaß ohne religiöse oder amtliche Bevormundung sei diesen Leuten viel wichtiger als politischer Protest. Wer tausche schon gerne sein Schlafzimmer (und seine Festplatte voller digitaler Lustobjekte) mit einer kalten, grauen Gefängniszelle?

Totalitäre Regierungen seien allzu gerne bereit, diesen Kult des „Cyber-Hedonismus“ zu unterstützen, solange es auf der anderen Seite den Druck der „digitale Straße“ abbaue und ihnen Spielraum gibt, ihre Agenda der Unterdrückung und Gleichschaltung zu verfolgen. Ist ein Tiananmen Square im Zeitalter von Twitter, YouTube und MySpace überhaupt noch möglich? Morozov hat seine Zweifel.

Die eigentliche Frage lautet also: Wird die Generation, die mit dem Internet aufwächst, also die Generation der „digital Natives“, freier sein als unsere – oder werden sie eine Generation der „digitalen Gefangenen“ sein?  Eines ist klar: Für die Machthaber in Peking und anderswo ist es billiger, die Leute elektronisch einzusperren, als richtige Zellen für sie zu bauen.

Eine Antwort

  1. Frei, freier, am freiesten. Ach nee, lieber Tim, das ist nicht die Frage. Könnte ja sein, dass die Menschen mit unbeschränktem Zugang zu allen Medien die Eingesperrten sind und mein Nachbar ohne Internet der letzte freie Mensch auf dem Block. Viel interessanter ist das, was weiter oben in deinem Beitrag anklingt: Tragen die – meist folgenlosen – radikalen Blogger-Äußerungen zum Nachdenken über Freiheit bei? Das glaub ich schon, denn was heute im Internet passiert, hat es so, frei von Kontrolle durch staatliche, kommerzielle oder geschmackliche Zensur, noch nie gegeben, zumindest nicht in der Möglichkeit zur Verbreitung. Zu der Zeit, als du in Heidelberg für den Nulltarif bei der Trambahn demonstriert hast, haben Leute wie ich Matritzen in die Olympia Traveller de Luxe gespannt und heftig in die Tasten gehackt, um mit den ausgeprägten Buchstaben Flugblätter abzuziehen. Da hat es der Mensch heute etwas leichter mit seinem Blog. Ob er mehr Leute erreicht, und mehr Wirkung erzielt – ich weiß nicht. Aber es könnte ja sein, dass wir uns selbst einsperren, wie die Frau im Eagles-Song: „Mirrors on the ceiling, pink Champagne on ice, she said we’re all just prisoners here, of our own device.“ (Hotel California)
    Schöne Tage, frohes Fest, und lass mal wieder von dir hören!

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