…und immer an den Nutzer denken!

Ich habe die Zukunft des Journalismus gesehen, und mir graut vor ihr.

Jürgen Schlott ist ein netter, freundlicher Mann, der sich „Direktor Marketing“ bei Focus Online nennt, dem „führenden deutschsprachigen Nachrichten- und Nutzwertportal“, wie es auf der Impressumseite heißt. In Düsseldorf auf der „Conversion Conference“ hat er einen Vortrag gehalten mit dem Thema „userzentriertes Arbeiten bei Focus Online.“ Und ich habe ihn dort gefragt: „Sollte das nicht besser ‚leserzentriertes Arbeiten‘ heißen?“ Er hat den Kopf geschüttelt. „Leser gibt es bei uns nicht. Das Wort steht bei uns auf dem Index.“

Im Journalismus der Zukunft, das lernen wir also, gibt es keine Leser mehr, nur noch Nutzer. Nutzer lesen nicht, sie klicken. Damit kann man sehen, ob ein Artikel bei ihnen angekommen ist. Gut, wir nehmen an, dass sie den Artikel zumindest oberflächlich gescannt haben, sonst bringt es ja nichts. Aber das ist nicht so wichtig: Wichtig ist, dass sie dort waren. Das kann man messen, festhalten, registrieren, zuordnen, auswerten. Daran lässt sich ableiten, ob ein Artikel gut war, nämlich erfolgreich. Es ist der Journalismus des Automatismus: Wenn genügend Leser, Verzeihung, Nutzer geklickt haben, dann hat der Journalist seine Arbeit gut gemacht. Dann ist er selber ein guter Journalist, und man kann ihn auch entsprechend belohnen, sogar entlohnen.

Nein, der Redakteur wird nicht bei Focus Online per Click bezahlt. Soweit sind wir noch nicht. Die Leistungskomponente der Redaktion, also das, was es am Jahresende zusätzlich zum Grundgehalt gibt, sei an gewisse Traffic-Kennzahlen gekoppelt, sagt Schlott.

Aber denkt man das weiter, so bekommt im Journalismus der Zukunft der Begriff „Pay per View“ eine völlig neue Bedeutung, wird zum Vergütungsmodell. Was, wenn keiner auf meinen Artikel klickt? Nun, wozu gibt es schließlich Hartz IV?

Einen Chefredakteur braucht der Journalismus der Zukunft eigentlich nicht mehr. Bei Focus Online gibt es ihn zwar noch, aber er ist nur einer von mehreren Leuten, die entscheiden, was ins Blatt, respektive ins „Nachrichten- und Nutzwertportal“ kommt. Jürgen Schlott hat da auch eine Menge mitzureden. Und er verbringt, wie er sagt, viel Zeit damit, den Redakteuren klarzumachen, dass sie gefälligst userzentrisch zu denken und zu schreiben haben. Das passt nicht jedem. Aber an seinen Auswertungen kommt am Ende keiner vorbei. Schließlich hat man ja Miete zu bezahlen und eine Familie zu ernähren.

Wenn Google meinen Artikel findet, klicken besonders viele Leser, Verzeihung, Nutzer drauf und dann klingelt es bei mir in der Kasse. Also lerne ich, für Suchmaschinen zu schreiben, die richtigen Keywords in meinem Artikel besonders häufig anzuwenden und den Artikel so aufzubauen, dass die digitalen Spinnen, die Google dauernd auf die Datenreise schickt, besonders schnell und einfach meine Keywords finden.

Die müssen möglichst ganz am Anfang stehen, am besten im Header und möglichst auch noch in der Seiten-URL. Das haben wir auf der Conversion Conference aus anderen Vorträgen gelernt. „Das Wichtige nach vorne“ hat mein alter Journalistenlehrer gesagt, aber bei dem klang das noch irgendwie nett, ein freundschaftlicher Rat. Man konnte ihn befolgen oder auch nicht. Heute würde man es am Monatsende am Gehaltszettel spüren.

Während ich Jürgen Schlott reden hörte, musste ich an Fred Baumgärtel denken, dem legendären Chefredakteur des „Playboy“ in den 80ern. Ich war eine seiner „Edelfedern“, wie er uns nannte, und er und wir haben das als eine Auszeichnung empfunden. Wir haben auch verdammt gute Arbeit geleistet, jedenfalls wenn man das Ergebnis an den alten Kenngrößen maß. Der „Playboy“ hat in der Spitze mehr als 800.000 Hefte verkauft und kratzte schon an den Auflagen von „Stern“ und „Spiegel“, bis der Verlag in seinem unerforschlichen Ratschluß auf die Idee kam, den Heftpreis fast zu verdoppeln, womit der unaufhaltsame Niedergang begann. Neulich feierte die Redaktion des Playboy eine Party, weil die Auflage die magische Grenze von 200.000 überstiegen hatte. So viele Klicks gibt es auf Focus Online jeden Tag, und noch viel mehr. Wenn nicht, dann macht Jürgen Schlott den Leuten mächtig Dampf. Und der Chefredakteur wird wahrscheinlich auch die Stirn in Falten legen.

„Einmal im Monat bumse ich mit Tante Publikum“, hat Fred Baumgärtel mal abends bei einem Gläschen Aligoté zu Jürgen Kalwa gesagt, einem seiner Jungredakteure und ein Heißsporn, der mehr Mitbestimmung der Redakteure bei der Themenfindung forderte. „Deine Aufgabe, mein Junge, ist es, mir dabei hoch zu helfen.“ Das waren noch richtige Chefredakteure. Was wohl Günter Prinz oder Henri Nannen zu einem Mann wie Jürgen Schlott gesagt hätten.

Aber Schlott und seine Kollegen von der Optimierungsfraktion sind echte Profis, und wahrscheinlich sind sie die Zukunft des Journalismus. Ich finde das zwar bdrückend, werde es aber auch nicht aufhalten können. Zum Glück muss ich es nicht mehr am eigenen Leib erleben…

PS: Irgendjemand hat bei Focus Online noch nicht verstanden, wo die Reise hingeht. Auf der Impressumseite steht ganz unten der Satz: „Immer an den Leser denken – diesem Motto fühlt sich FOCUS Online seit nunmehr 15 Jahren verpflichtet.“ Da hat jemand wohl vergessen, das Memo zu lesen. Na warte, bald ist Monatsende!

9 Antworten

  1. Und da schließt sich also auch der Kreis mit dem Leistungsschutzrecht.
    Google ist also doch ein Verlagshaus, schließlich gilt:
    > „Also lerne ich, für Suchmaschinen zu schreiben,…“
    Die Journalisten schreiben also nicht für FOCUS oder BiLD, sondern für Google. Tja Tante Google, damit bist du quasi der Cheffredakteur – und wie wir eben gelernt haben, sind eben diese zukünftig überflüssig 😉

  2. Und wenn die Schreiberlinge jetzt alle in dem laienhaften Versuch, die Keyword-Density ihrer Artikel hoch zu treiben um mehr Klicks und damit Geld zu bekommen, anfangen, ihre Texte auf Keywords zu optimieren ist Jürgen Schlott seinen Job spätestens dann los, wenn Google das nächste Großupdate fährt.

    Also ganz ruhig, das wird sich von selbst regeln, wetten?

  3. Na ja, von den 800.000 früheren Playboy-Käufern waren vermutlich auch 500.000 nur „Nutzer“, die das Heft weniger wegen der Edelfedern und gebildeten Interviews gekauft haben, sondern als Bild-Vorlage zur Körperertüchtigung. Es gab ja noch kein Internet … Und hätte man dir damals deine Fron nach NUTZERzahlen entgolten, so würdest du heute ein Netzwerk von Malt- und Zigarrenniederlassungen dein Eigen nennen, anstatt als kluger Referent die Bühnen der Republik zu bereisen, was natürlich schade für deine Leser und Zuhörer wäre 😉

    Die hemmungslose Ökonomisierung des Journalismus, die du hier beklagst, ist in der Tat bejammernswert und darf und kann nicht die Zukunft des Journalismus sein. Wenn Publikationen nur noch auf NUTZERzahlen schielen, kastrieren sie sich. Aber in Grundzügen war dieses System immer schon im Journalismus angelegt. Auflagen spielten immer schon eine Rolle. Und wir alle wissen von Medien zu berichten, deren Auflagen in keinem natürlichem Verhältnis zu den Leserzahlen standen. Und erst recht kennen wir Medien, die verzweifelt versuchten sich am vermeintlichem Lesergeschmack zu orientieren.
    In der Tat ist das Streben nach einer suchmaschinenorientierten Optimierung medialer Inhalte nicht in jedem Fall verwerflich. Der Konflikt zwischen „einer schönen Schreibe“ und einer Google-optimierten Verpackung ist nichts anderes, als der alte Streit zwischen Redakteur und Headline-Redakteur. Viele Generationen erboster BILD- und ams-Journalisten könnten dies wohl bestätigen.
    Also: seriöse Medienmacher sollten schon ein Auge auf neue Vermarktungsmechanismen im klassischen Journalismus haben. Die Unterwerfung unter deren Diktat aber war und ist der Tod des Journalismus.

  4. Hm, kleine Frage: Erst haben alle für die Handelsherren geschrieben. Dann für die Obrigkeit. Dann, irgendwann, für den Chefredakteur, und jetzt soll es Google sein. Gab es irgendwann eigentlich mal Journalismus für die Leser? Ich mein ja nur.

  5. Na, da wird bei mir doch ein schönes Vorurteil bestätigt: Nachdem ich den Herrn Markwort einmal in den 90er-Jahren bei einer PK (ich glaube, es war sogar der Start von Fokus Online, bin mir aber nicht sicher), erleben durfte, wie er auf offener Bühne vor Publikum einen armen Mitarbeiter rund machte,
    war dieses Magazin (plus seiner Webseite) mir nie sympathisch. Nun, da sie uns alle vom Leser zum Nutzer machen wollen, noch viel weniger:

    Liebe Fokus-Macher und -Leute ich bin und bleibe ein Leser, eben auch deshalb, weil ich schon seit Jahren in der gleichen Branche bin. Ihr seid ja sowas von (schreibe ich jetzt lieber) nicht.

    Ich hoffe doch mal inständig, dass DAS nicht die Zukunft des Journalismus ist — da friert’s mich , wie ein geschätzter Ex-Kollege immer sagte!!!!!!!!!!!!

  6. Ich finde diesen Artikel einfach gut! Und habe nun als Leser, der Leser bleiben und nicht Nutzwert abgreifen will, ein Problem und mächtig Stress: Wo kann ich hinclicken, am besten hundert Mal, dass alle möglichen Click-Messer suggerieren, dass DIESE Art von Journalismus diejenige ist, welche auch für Portalportiers und -kassierer die wirklich geile ist?

  7. Und Google ist wieder an allem schuld, Google ist böse und man hat Google zu hassen.

    Wie erbärmlich selbstverliebt muss man sein, um so einen Schwachsinn zu posten…… naja, schlechter Journalismus eben….

  8. “Wenn keiner auf meinen Artikel klickt…”
    –> Das Schulterklopfen von der Altherrenriege reicht einfach nicht mehr um ein/e gute/r JournalistIn zu sein, im Zeitalter des Internets kann endlich auch die Meinung des Lesers / der Leserin zu einem einzelnen Artikel (nicht nur dem Gesamtprodukt) gemessen werden.
    Eine Optimierung für Google bedeutet im Endeffekt auch nur Wörter zu verwenden, die im Wortschatz potentiellen LeserInnen eine Rolle spielen, ergo in der Suche verwendet werden. Der/die JournalistIn der Zukunft wird also die Freiheit genommen Themen zu behandeln die niemanden interessieren und Wörter zu verwenden die keine/r versteht.
    Fazit: Der Journalismus der Zukunft muss sich seinen LeserInnen annähern.

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