Er hat wieder zugeschlagen! Dr. Bernd Graff, spätberufener Internet-Beobachter und „Stellvertreter des Chefredaktuers“ der Online-Ausgabe der SZ, hat es uns mal wieder so richtig gesagt. „Dem Cyberspace sind die Utopien abhanden gekommen“, donnert er von der neuerdings luftigen Kanzel in der Hultschiner Straße. „Die Verheißung, die mit solcher Grenzüberschreitung einmal verbunden war, ist nirgends mehr zu spüren“, behauptet er und macht sich über Apples neuen Virtual Reality Headset lustig: „Es reicht völlig, dass man damit Theater sehen kann, das gar nicht da ist.“

Das schwülstige Versatzsrück, das sich immerhin über zwei volle Zeitungsspalten auf der ersten Seite des Feuilletons zieht, ist ein entsetzliches – vor allem aber entsetzlich langweiliges – Wiederkäuen von Zitaten aus den Kindertagen des Cyberpunk, von Rudy Rucker über Timothy Leary bis William Gibson und Donna Haraway. So ganz genau wird zwar nicht klar, was ihn so stört, aber offenbar möchte er mal so richtig zum Rundumschlag gegen den Hype ausholen.

Dass der Schlag ins Leere geht liegt daran, dass er eine nur halbverstandene Version des Internets von vor 10 Jahren durch den Kakao zu ziehen versucht – und dabei natürlich selbst tief hinein taucht.

Dass sich die x-te Internet-Schelte eines Menschen, der nicht verstanden hat, worum es im Internet geht, auch noch mit der Headline „Die Nomaden des Digitalen“ schmückt, ist der letzte Hohn. Denn Graff geht mit keinem Wort auf das digitale Nomadentum ein, auf die Veränderung, die sich zum Beispiel aus der Konvergenz von Internet, Mobilkommunikation und Navigation ergibt und für die Twitter vielleicht der sichtbarste, aber keineswegs der einzige Protagonist ist.

Nun könnte man ja Herrn Graff und seine ständige Internet-Nörgelei ja als belanglos abtun, zumal sie sich im Feuilleton der SZ und damit sozusagen im realitätsfreien Raum abspielt. Echte Sorge mache ich mir aber, weil Herr Graff ja keineswegs das Problem ist – er ist nur ein Symptom!

Wie kaum eine andere große Tageszeitung hat die SZ das Internet schlicht verpennt. Weder, dass sich das Thema selbst im Blatt in einem Maße wiederfindet, der ihrer tatsächlichen Bedeuting für Leben und Alltag der Leser widerspiegelt. Schlimmer noch ist die völlige Inkompetenz, mit der das Haus online geriert.

Herr Graffs Problem ist also nicht, dass er keine Ahnung vom Internet hat. Sein Problem ist, dass er sich damit bei der SZ in bester Gesellschaft befindet. Man muss doch nur den so genannten Online-Auftritt der Zeitung ansehen. Ich sage nur „ePaper“ und „Freeze„! Weiter daneben kann ein Verlag nicht mehr liegen. Was mir eigentlich egal wäre. Aber zufällig lese ich die SZ seit 30 Jahren und möchte, dass sie mindestens noch 20 Jahre weiterlebt. Bis dahin ist nämlich meine Haltbarkeitsdauer vermutlich abgelaufen. Aber im Ernst: Irgend jemand muss denen schnellstens erklären, was Internet ist und wie Zeitungen es nützen müssen, wenn sie überhaupt noch eine Überlebenschance haben sollen. Ein guter erster Schritt wäre, Herrn Graf endgültig in den Ruhestand zu schicken und sich vor allem fortan strikt zu weigern, Texte von ihm zum Thema Internet abzudrucken.

9 Antworten

  1. gut gebrüllt löwe! in der tat lebt der ja gar nicht so erfolglose online-auftritt der sz im wesentlichen vom großen archiv. der gipfelpunkt der interaktivität ist die möglichkeit des lesers zwischen dem wetterbericht auf der startseite und der realität durch einen blick aus dem fenster in echtzeit hinundherzuschalten.
    neue alternativen für nachrichtenmedien, wie sie zum beispiel zoomer (http://www.zoomer.de/) mit der verbindung aus qualitätsjournalismus und leser-feedback erprobt sucht man bei den süddeutschen vergebens. noch nicht einmal das niveau einer ansonsten ja eher betulichen zeit wird erreicht, die in ihrer zeit online community sich ein wenig mit web 2.0-tools vertraut macht.
    so zeigt sich der umzug der redaktion der süddeutschen aus dem zentrum münchens an die peripherie doch noch als symbol für die marginalisierung der großen alten tante sz im internet-zeitalter. schade um mein stammblatt.

  2. Die Süddeutsche? Ist das dieser Altpapierstapel, der immer wieder mal meinen Keller wächst, wenn eine gewisse Ehefrau in einem Anfall von Intellektualisierung, ein Probeabo in der Fußgängerzone abstaubt. Er VERstaubt dann, der Stapel Papier.

    Wer interessiert sich denn gleichzeitig für all diese „Teile“ Sport, Börsenkurse, Stellenanzeigen, Immobilen u.s.w. auf gefühlten 900 Seiten.
    Erstens hat wohl kaum jemand täglich 5 Stunden Zeit, oder gar den Platz. Klappt man diesen Stapel nämlich auf, füllt er ein Fußballfeld … was ist das für ein Format DIN A 0?????

    Wieder „zusammengefaltet“ ist dieses Printmonster eine Papierkugel mit 2 m Radius. Gottlob landet der Stapel ungelesen im Keller, sonst bräuchten wir ein größeres Haus.

    Aber es gibt ja auch ein Onlineangebot … Das kann ich aber wahrscheinlich nicht nutzen, weil ich leider nur zwei 19 Zoll Monitore habe, da passt die Süddeutsche bestimmt nicht drauf …

  3. Ich finde nicht, dass Herr Graff ein „schwülstiges Versatzstück“ über die verlorenen Utopien geschrieben hat. Ich fand es sehr lesenswert. Ich habe den Eindruck, Graff ist einigen aus der Bloggerszene ein rotes Tuch, weil er einer der Wenigen ist, die das Hinterhergerenne hinter jedem neuen Web-, und online-Trend ab und zu in Frage stellen.
    Mir gehen die Selbstbeweihräucherer vom Schlage Knüwer sehr viel mehr auf die Nerven als Herr Graff. Ebenfalls auf die Nerven geht mir, jegliches Herumstümpern mit so genanntem User generiertem Content erst einmal gut zu finden. Ich finde das Meiste offengestanden ziemlich furchtbar und langweilig. Ich freue mich jetzt schon auf eine Diskussion, die nicht automatisch bisherige journalistische Formen als Überkommen geisselt und nicht alles neue, web-2.0-artige als Zukünftig feiert. Bis jetzt kommt es mir so vor, als wenn User Generated Content, Bloggen, Twittern, usw. von immer mehr Leuten als Hobby betrieben wird (von uns ja auch :-)), aber nichts mit professionellem Journalismus zu tun hat, den es ja auch durchaus online gibt.
    Wir erleben gerade eine Zeit großer Veränderung. Klar scheint mir, dass Eliten-Journalismus alter Prägung in eine Nische abgedrängt wird. Aber es ist noch nichts da und nichts in Sicht, dass diese bisherige „Veröffentlichkeit“ ersetzen kann. Blogs und andere können es in ihrer heutigen Form nicht sein. Sie sind noch anfälliger als der bisherige Journalismus für Beeinflussung und tendenzielle Berichterstattung. Die Frage, was ist neutrale Berichterstattung, was ist Lobbyarbeit, was Marketing und Werbung lässt sich doch in den neuen Formen der „veröffentlichten Meinung“ gar nicht mehr beantworten. Wie viele Unternehmen, Agenturen, Parteien usw. stecken hinter Blogs und Tweets, ohne dass es dem Nutzer klar wird oder im Impressumseintrag der wirkliche Absender steht.

    Bisher war Journalismus so wichtig („vierte Gewalt“), weil Regeln galten,an die sich mehr oder weniger alle gehalten haben (Trennung von Nachricht und Meinung, keine Schleichwerbung, Trennung von neutraler Berichterstattung und Werbung etc.). Nichteinhaltung wird sanktioniert. Im Web gibt es solche verbindlichen Regeln gar nicht, jeder veröffentlicht fröhlich vor sich hin, unabhänig davon ob es stimmt oder nicht. Der meschugge Verschwörungstheoretiker, der die Wiederkehr der alten Mayas prohezeit, steht gleichberichtigt neben Berichten, die vor der Veröffentlichung auf ihre Stichaltigkeit, ihre Neutralität und ihren Wahrheitsgehalt geprüft worden sind.

    Wenn wir heute ernsthaft propagieren, dass das Web, so wie es sich heute darstellt, die Zukunft der Medien zeigt, dann sollten wir uns schleunigst von dem Gedanken verabschieden, über diese Medien neutrale Informationen zu erhalten, die nachweislich stimmen. Im besten Fall werden wir noch unterhalten, aber nicht mehr informiert.

  4. @christoph
    vielleicht hab ich den beitrag von graff ja völlig falsch gelesen; aber ich meine, da ging es überhaupt nicht um unser beliebtes thema, wie denn journalismus und web 2.0 zusammenhängen. graff schreibt darüber, dass es keine visionen mehr im cyberspace gäbe. und das halte ich für ziemlich kurz gesprungen. nur weil secondlife mal wieder zu früh kam (lahmer client, kein spielwitz für couch potatoes) ist die virutalisierung der kommunikation doch nicht zu ende: ambient computing, online gaming, 3d-welten, große fortschritte in der robotik. das alles kommt bei graff nicht vor.

    natürlich kann es einem auch ein wenig schwindelig werden, bei den visionen vom cyberspace.
    wenn man mal kombiniert, was heute schon alles im einzelnen möglich ist, was entsteht da für eine welt … heute baut kokoro einen roboter, der sieht aus wie eine japanerin, roboter nico von der yale university besitzt die intelligenz einen neun monate alten kindes, robovie IIs von der university of texas hat eine berührungssensitive haut aus einer platin-silokon-verbindung (er lächelt bei berührung), ein roboter der universität tokio kann riechen. man stelle sich das mal kombiniert vor: wahnsinn! die robotbraut möchte ich doch dann auch nur noch mit einem datenhandschuh anfassen. da mach ich mir doch lieber einen bunten abend mit den jakob sisters.

    es gibt visionen, die gehen mir aber mächtig unter die haut. doch solche visionen sind kein grund in zeiten virtueller wii-super-mario-baslers in die deckung der ignoranz zu gehen.

  5. @Christoph: Du kannst Herrn Graff das ja gerne schreiben. Achte nur bitte darauf, dass du es möglichst wochentags zwischen 8 und 19 Uhr tust – denn danach ist die Kommentarfunktion bei der SZ angeschaltet. Wenigstens sagen sie dazu „freezed“. Das klingt dann irgendwie sophisticated und nicht so borniert wie es in Wirklichkeit ist.

  6. @christoph witte: ‚Bisher war Journalismus so wichtig (”vierte Gewalt”), weil Regeln galten,an die sich mehr oder weniger alle gehalten haben (Trennung von Nachricht und Meinung, keine Schleichwerbung, Trennung von neutraler Berichterstattung und Werbung etc.)‘.
    Das finde ich richtig rührend, Herr Witte. Nur gibt’s das nicht mehr, und ob Sie den veröffentlichten Nachrichten, Meinungen oder Werbungen trauen, müssen Sie schon längst nicht mehr nur im Internet selbst entscheiden.
    Und was Herrn Graff von der SZ betrifft, kann ich nur warnen: Kaufen Sie niemals eine gebrauchte e-mail von einem Mann, der e-mails nicht beantwortet.

  7. Nunja, immerhin werden Kommentare nicht nach Ermessen der Redaktion gekürzt wie Leserbriefe.

    Ich erhalte mir noch meine optimistisch-blauäugige Meinung, dass „echter“ Journalismus auch im Web seinen Platz hat. Eine anspruchsvolle Leserschicht wird’s immer geben, und Bildzeitungsleser eben auch. Und jeder wird seinen Bedarf befriedigt finden – nur ist eben eine Bildzeitung einfacher gemacht, als ein FAZ-Feuilleton.

    (Das Feuilleton der SZ ist nebenbei eine Masturbationsvorlage für die Bourgeoisie, ein feiger Konjunktiv von Bildung).

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