Rachel die Frau des Rabbis

Silvia Tennenbaum: Rachel, die Frau des Rabbis.

In „Rachel, die Frau des Rabbis“ erzählt Silvia Tennenbaum viel, aber sie entwickelt nichts. Und das ist gut so. Es ist ein quälend langer Vorstadt-Sabbat, in dem Tennenbaum die Zustände einer jüdischen Gemeinde schildert, ihre Bigotterie, ihre inneren Kämpfe, ihre Nestwärme, und mittendrin die Familie ihres Rabbiners und ihrer Rebbezin.

Die Autorin

Silvia Tennenbaum, geboren 1928 in Frankfurt am Main, entstammt einer renommierten jüdischen Familie der Stadt. Durch ihren Großvater Richard Stern war sie mit Otto Frank, dem Vater von Anne Frank, verwandt. Im Jahr 1936 wanderte sie zunächst in die Schweiz aus und zog 1938 weiter in die USA. Dort studierte sie Kunstgeschichte, arbeitete eine längere Zeit als Kunstkritikerin und begann in den sechziger Jahren mit dem Schreiben. Ihr Roman »Rachel, die Frau des Rabbis«, der 1978 im amerikanischen Original veröffentlicht wurde, war in den USA und später in Europa ein großer Erfolg – und das zu Recht. Denn Silvia Tennenbaum war selbst 35 Jahre mit einem Rabbiner verheiratet. Der Roman trägt in weiten Teilen autobiografische Züge.

Die Story

Rachel, die sich der Vierzig nähert, ist Mutter eines 16 Jahre alten Jungen und seit zwei Jahrzehnten mit dem Vorstadt-Rabbiner Seymour Sonnshein vermählt. Ihre Leidenschaft fürs Baseball ist groß, ihr Kleidungsstil auffällig, und sie verbringt ihre freie Zeit vorzugsweise in ihrem Atelier, um ihre unterbrochene Künstlerlaufbahn wieder aufzunehmen. Sie malt. Diese Lebensweise widerspricht der konventionellen Erwartung der Gemeindemitglieder an eine typische Rebbezin, an die Frau eines Rabbiners. Die Sonnsheins werden durch Intrigen und Konflikte innerhalb der Gemeinde sowie andere Herausforderungen aus der Bahn geworfen. Die 1928 in Frankfurt am Main geborene Silvia Tennenbaum war über drei Jahrzehnte die Ehefrau eines Rabbiners. In ihrem autobiografisch inspirierten Roman schildert Tennenbaum mit Humor und vor allem Ironie das Leben einer jüdischen Gemeinde in einer amerikanischen Vorstadt in der Nähe von NYC.

Mein Lesespaß

450 Seiten auf denen viel passiert und sich überhaupt nichts entwickelt. Ein ewig langer Vorstadtsonntag, nein Verzeihung: ein Vorstadtsabbat. Der Roman zieht sich hin wie ein dicker Bubble Gum und wird doch an keiner Stelle langweilig. Solche Bücher liebe ich. Sie leben von ihrer bildreichen Sprache, von den kleinen Alltagsszenen, von den Alltäglichkeiten. Und diese Alltäglichkeiten sind im Großen und Ganzen natürlich frustrierend. Das Leben der Rebbezin ist frustrierend, weil ihr Alltag so überaus im Gegensatz zu ihren Leidenschaften, ihren Trieben und intellektuellen Wünschen steht. Und die Fesseln ihres jüdischen Alltags stehen ihrer Emanzipation als Frau entgegen.

Sie liebt ihren Mann, der sie ganz offensichtlich, schon wieder nein: der sie vermutlich mit einer anderen betrügt. Und sie liebt einen anderen Mann, der sie an ihre Jugend erinnert, als sie noch nicht als Rebbezin an die Ehe mit einem Rabbiner, an diesen ernsten Mann und seine Gemeinde gefesselt war. Spätestens auf Seite 268 erwartet man endlich endlich endlich ihren mutigen Schritt zur Trennung, als er sie zwingen will mit ihr aus der furchtbaren Provinz in die noch tiefere Provinz zu ziehen, sie sich zu weigern versucht, er sie deshalb in aller Öffentlichkeit schlägt „um sie zur Besinnung zu bringen“. Abends im Bett dreht sie ihm den Rücken zu und … Ach lest doch selbst. Der Leser jedenfalls bleibt frustriert zurück, die Leserin erst recht.

Dabei ist der Rabbi ja einer der aufgeklärten Sorte, ein Liberaler, der einst gegen den Vietnam-Krieg auf die Straße gegangen war. Er ist mit einem schwarzen Bürgerrechts-Pastor befreundet. Ihr gemeinsamer Sohn geht im Laufe des Romans „mit einer schwarzen Schickse“ ins Bett. Ach ja, die Goj erhalten ganz nebenbei einen kleinen Einblick in den liberalen jüdischen Alltag, lernen ein paar jiddische Begriffe, ein wenig über jüdische Feiertage und Seltsamkeiten jüdischer Gemeinden. Kann ja nicht schaden. Mit einem wachen Blick werden sie feststellen, dass eine jüdische Vorstadtgemeinde in ihrer Bigotterie einer katholischen Land- oder protestantischen Vorstadtgemeinde gar nicht so fremd ist. In ihrer wechselseitigen Fürsorge auch nicht. Glaubensmedaillen haben immer zwei Seiten.

Die meisten Rezensenten finden, dass die Autorin ihren Lesenden einen hoffnungsvollen Schluss anbietet. Die Protagonisten des Romans würden allen Widrigkeiten trotzen und einen Weg in eine gemeinsame Zukunft finden. Das finde ich nicht. Ich sehe den Ausweg nicht. Nein, dieses Buch ist ein humorvolles Desaster. Es macht Spaß darin zu lesen, aber ich möchte nicht darin leben.

Meine Leseempfehlung

Ich empfehle dieses Buch unbedingt allen Menschen, die von Büchern keine plumpe Lebenshilfe erwarten, sondern hervorragend geschriebene Unterhaltung, die sich für jüdisches Leben interessieren, die sich überlegen in Vorstädte zu ziehen, oder die sich versehentlich in einen Rabbiner verliebt haben.

Illustrationen © Michael Kausch

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