Harry Walter Bilder knistern

Harry Walter liest in den Fotografien fremder Menschen

Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Analphabet der Zukunft sein.“ So schreibt Walter Benjamin in seiner „Kleinen Geschichte der Photographie“. Fotografien muss man lesen. Man muss verstehen, was sie ausdrücken. Und sie drücken stets mehr aus, als das, was der Auslöser, der Fotografierende beabsichtigte. Sie sind Ausdruck ihrer Zeit, der gesellschaftlichen Umstände und Machtverhältnisse, in der sie entstanden sind. Wer Fotografien liest, der versteht den Zeitgeist, der sich in ihnen verbirgt.

Ich liebe es Fotobücher, Fotoalben und Dias anderer Menschen zu betrachten. Und deshalb liebe ich dieses Buch. Denn Harry Walter ist wie ich dem Knistern der Bilder vefallen. Das „Knistern“ ist der Nachhall jener vergangener Epochen, aus den Bildern zu uns sprechen.

Freilich muss man Fotografien lesen können. Harry Walter kann lesen.

Vom Knistern der Bilder

„Fotos werden gemacht, um einen Augenblick für die Nachwelt festzuhalten. Die Nachwelt ist jedoch keine genaue Adresse, und der fotografierte Augenblick hat keine eindeutige Botschaft. Reißt der Erzählfaden ab, verlieren die meisten Fotos auf einen Schlag ihren Inhalt — oder aber sie entwickeln, nachdem der biografische Dampf abgelassen ist, ein Eigenleben und füllen sich auf mit allem, was die Neugier an sie heranträgt. Dann fangen sie an zu knistern und irgendwie von sich selber zu handeln, also nicht mehr nur bloß von dem, was drauf ist, sondern immer auch von der Tatsache, dass sie Fotografien sind.“

So steht es im Klappentext zum Buch „Bilder knistern“ von Harry Walter, erschienen im Oktober 2022 im Schlaufen Verlag. 

In 24 Essays interpretiert er private Fotografien, die er auf irgendwelchen Auktionen oder als Bestandteile von Nachlässen oder Bilder-Wundertüten erstanden hat. Die Motive sind vielfälig und zum Teil alltäglich bis wunderlich:

  • Frauen beim Töpfern
  • eine Familie unterm Weihnachtsbaum
  • Schrankwand mit Fernsehgerät
  • Wehrmachtssoldaten auf Heimaturlaub
  • Schützen auf dem Cannstatter Wasen

Die Scheinanlage Brasilien

Manche Geschichte ist aber nicht nur wunderlich, sie ist auch historisch ausgesprochen aufschlussreich. Habt Ihr schon mal etwas von der „Scheinanlage Brasilien“ gehört? Nein? Dabei gibt es sogar einen Wikipedia-Eintrag zur Scheinanlage Brasilien.  Mir war das neu. Und ich steh auf seltsam-schräge Geschichten aus der Geschichte. 

Das also weiß Harry Walter zu berichten:

„Die unter dem Decknamen ‚Brasilien‘ zwischen 1940 und Anfang 1943 nordwestlich von Lauffen am Neckar betriebene ‚Scheinanlage‘ sollte den nachts einfliegenden britischen Bombern die Stadt Stuttgart vorgaukeln und die zum Abwerfen ihrer Bomben veranlassen. Zu diesem Zweck waren auf dem ‚Großen Feld‘ zwischen Lauffen, Brackenheim und Nordheim zahlreiche Kunstgebilde aufgebaut worden. … Westlich zweier Neckarschlaufen, die eine große Ähnlichkeit mit denen bei Stuttgart-Bad Cannstatt aufweisen, zeigte sich ein gigantisches, teils Weichenstraßen und Lichtsignale, teils wirkliche Straßen vorspiegelndes Lichternetz, in dessen Zentrum sich die Umrisse des Stuttgarter Hauptbahnhofs abzeichneten.“

Von dieser ‚Scheinanlage‘ gibt es scheinbar nur wenige Fotos. Nicht mal in der Wikipedia gibt es Bilder.  Harry Walters Bilderfundus enhält Fotos. Wunderbar. Und er weiß auch zu berichten: „Als den britischen Bomberpiloten endlich klar wurde, dass sie die ganze Zeit über auf ein bloßes Bild hereingefallen waren, haben sie über der als Illusion entlarvten Stadtlandschaft sinnigerweise Bombenattrppen aus Holz abgeworfen.“ Was sie wohl heute machen würden, zu Zeiten von Suttgart 21?

Drei Fotos aus dem Buch

Harry Walter im String-Tanga

Nicht nur die britischen Bomber-Piloten verfügen über britischen Humor, auch Harry Walter ist mit Humor gesegnet, was der Lektüre seines Bilderbuches ausgesprochen gut tut.

Im Essay „Eine Frau, ein Goldhamster und zwei Walnüsse“ über ein Bild, das eine Frau, einen Goldhamster und zwei Walnüsse zeigt (was auch sonst?) kommt der Autor über den Buchtitel „Das Universum in einer Nussschale“ auf Stephen Hawking zu sprechen. Und so ist der Sprung vom Hamster zur Stringtheorie natürlich naheliegend und im Stil der Echternacher Sprungprozession fabuliert Harry Walter munter drauf los und zitiert eine Abhandlung zu besagter Stringtheorie, die so schön ist, dass ich das ein wenig ausführliche Zitat hier wiedergeben muss:

„Ein geschlossener String lässt sich auf verschiedene Weise im aufgewickelten Raum einfangen. Er könnte sich beispielweise durch ein Loch winden oder hindurchtunneln, ohne das Vorzeichen zu wechseln, oder als Orbifold im Calabi-Yau-Raum stecken bleiben. Jedoch lassen sich die Schleifen eines geschlossenen Weges, der sich mehrfach durch ein Loch im mehrdimensionalen Orbifold windet, bei bestimmter Windungszahl beseitigen. Möglicherweise bildet ja der Orbilfold-Raum den stark gekrümmten sechsdimensionalen Hintergrundraum, in dem sich Strings bewegen. Die überzähligen Dimensionen der Raumzeit bleiben dabei aufgewickelt, egal, ob man nun den Weltflächentorus wie eine Wurst oder ein Yoyo aufschneidet. Irgendwie hängt alles von der Wahl der kosmologischen Konstante ab. Der experimenteller Wert ist Null mit einer Genauigkeit von zehn hoch minus zwanzig. Aus den topologischen Eigenschaften der sechs aufgewickelten Dimensionen ergeben sich noch viele andere physikalische Konsequenzen. Eine der grundlegenden Eigenschaften eines Raumes ist beispielsweise seine Eulerzahl. Wäre der aufgewickelte Raum zweidimensional, so wäre die Eulerzahl gleich zwei minus dem Geschlecht der Fläche, wobei das Geschlecht gleich der Anzahjl der Löcher ist. Für sechs Dimensionen ist die Eulerzahl weniger einfach zu erklären.“

Ah ja. Worüber zu sprechen lohnt, wenn man ein Foto mit einer Frau, einem Goldhamster und zwei Nüssen findet …

Das ist ja gar kein Fotobuch

Überhaupt: Das Buch ist ja gar kein Bilderbuch. Es ist großartige Erzählkunst. Allein über die Sache mit dem String habe ich mehrmals nachgetrunken. Äh … nachgedacht. Ich kenne nur wenige Autoren, die so ausschweifend über das Schweigen schreiben können. „Gut organisiertes Schweigen“, so schwelgt Harry Walter in seeligen Erinnerungen eine alte Fotografie betrauernd, sei eine leider aussterbende Kulturtechnik. Er tut dies auf sechs Seiten. Und es wird an keiner Stlle langweilig. Versprochen.

Das tut auch Not. Denn die drucktechnische Qualität der Abbildungen ist angesichts der ausschweifenden Bildbetrachtungen skandalös miserabel. Das Buch kostet nur 22,50 Euro. Und es sieht leider auch so aus. Damit aber hat der Verlag dem Sujet keinen Gefallen getan. Häufig ist auf den Abbildungen kaum etwas zu erkennen. Und das ist schade. Der Verlag hätte gut daran getan den prächtigen Texten des Autors einen prächtigen Bildband zu gönnen. So bleibt es ein Lesegenuss für Scharfsichtige.

Harry Walter, Bilder knistern. Schlaufen Verlag. Oktober 2022. 22,50 €. ISBN 978-3-98761-001-1 

Illustrationen © Schlaufen Verlag. Die Fotos sind dem Presse-Kit entnommen.

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