zauberberg

100 Jahre Zauberberg. Der Berg ruft

Vor 100 Jahren ist also „Der Zauberberg“ von Thomas Mann erschienen. Es gibt nur wenige Bücher, die ich mehrmals gelesen habe: Goethes „Wahlverwandtschaften“, „Die Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer, Anna Seghers „Transit“, den Shell Autoatlas und eben den Zauberberg. Keines hat mich so fasziniert wie der Zauberberg. Ich liebe dieses „aus der Zeit fallen“ des Hans Castorp. Dass aus einem kurzen Klinikaufenthalt sieben lange Jahre werden. So wie ja auch aus der geplanten Novelle Thomas Mann versehentlich einen tausend Seiten fassenden Roman generierte. Auch Thomas Mann ist beim Schreiben aus der Zeit gefallen. Und ich beim Lesen sowieso.

Natürlich hilft dabei das Sujet, die Schatzalp, der Berg, das Eingeschneitwerden im Winter, die zeitweise Nichterreichbarkeit, das Schaukeln zwischen Leben und Tod der Kranken, jenes röchelnde irdische Fegefeuer des Lungen-Sanatoriums. Vor einiger Zeit veranstaltete des Münchner Literaturhaus eine Ausstellung zum Roman. Dabei bliesen Lautsprecher alle paar Minuten das stakkatohafte Husten eines virtuellen Rauchers in den Raum. Die akustisch überaus stimmige Versetzung zum Viatium der Barbara Hujus.

Das Personal

Überhaupt das Personal des Romans. Fast alle sind sie mir in meinem Leben leibhaftig begegnet. Die erinnere die wirre irre Frau Stöhr in einer Reisegruppe zwischen den Ruinen des alten Troja, wie sie anklagend den bösen Russen verurteilte, der 45 unser schönes Elfenbeinzimmer gestohlen habe. Richtig gelesen: das berühmte Elfenbeinzimmer. Die Reisegruppe bestand großteils aus Studienrätinnen und Studienratten plus Frau Stöhr und einem liebenswerten Schreiner, den Frau Stöhr denn auch gleich zum Innendesigner erklärte, dem Status wegen. Ach meine Frau Stöhr, wie hatten wir Spaß miteinander …

Und dann natürlich Clawdia, die schöne Chauchat. Sie ist mir in meinem Leben ebenso begegnet, wie der unsägliche Mynheer Peeperkorn, der geile notsportive Fettsack. An Settembrinis und Naphtas mangelte es in meinem politischen Leben sowieso nicht.

Villa Heimdall in Heringsdorf
Die ehemalige Villa Heimdall in Heringsdorf an der Ostsee. Hier vollendete Thomas Mann vor 100 Jahren den Zauberberg. Der Roman erschien tatsächlich erst am 20. November 1924.

Der Berg kommt

Interessant finde ich, dass in letzter Zeit so viele Nachdichtungen des Zauberbergs auf den Markt kommen. Einige gelangen sogar zu einiger Berühmtheit, etwa Timon Karl Kaleytas „Heilung“, ein Werk, das sogar für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert wurde. Eckhart Nickel kommentiert gar: „Die schönste Bergklinik der Literatur seit dem Zauberberg“. Tatsächlich raubt Kaleyta eine ganze Reihe Mannsche Motive und simplifiziert sie zur Groteske. Aus einem reichen Sittengemälde wird ein kümmerliches Skizzenbuch. Aber darüber habe ich mich schon an anderer Stelle mokiert.

Gerade habe ich mir ein anderes Buch zugerichtet, das sich deutlich vielversprechender anliest: „Die Passagierin“ von Franz Friedrich. Angestoßen von der wunderbaren gleichnamigen Oper von Mieczysław Weinberg, die wiederum auf dem Roman Pasażerka von Zofia Posmysz basiert kam ich auf den Friedrich. Ich bin noch nicht so weit, dass ich ernsthaft darüber berichten könnte, aber ich werde das zu gegebener Zeit nachholen. Deshalb hier nur der Klappentext:

„Nach Jahren kehrt Heather zurück nach Kolchis. In das Sanatorium, in das sie als Teenager evakuiert wurde – durch eine Zeitreise. Heather leidet seitdem, wie viele Evakuierte, unter „Phantomerinnerungen“ und dem Schmerz der Einsamkeit, denn sie hat ein Leben und eine Zukunft zurückgelassen, die sie kaum gekannt hat. Sie hofft, innere Ruhe zu finden, doch auch Kolchis hat sich verändert. Das Sanatorium ist verfallen, die übrig gebliebenen Bewohner haben sich in ihre eigene Welt zurückgezogen. Matthias, der aus der Zeit der Bauernkriege evakuiert wurde, wird für Heather dennoch zu einem Vertrauten, der ihr zeigt, dass Kapitulation das Ende von Menschlichkeit bedeutet. Franz Friedrich erzählt von einer Zukunft, in der alle verpassten Chancen der Vergangenheit präsent sind. Aber auch von Freundschaft, Gemeinschaft und dem unstillbaren Begehren nach Veränderung.“

Die ersten 100 Seiten lesen sich vielversprechend bis wunderbar. Ich möchte fast sagen: „Die schönste Klinik der Literatur seit dem Zauberberg“. Und das nach 100 Jahren. Und das nach 100 Seiten. Zauberhaft, oder?

Nachruf: Wer mehr über den Zauberberg lesen möchte: hier der Link-Tipp: zauberberg.de Und wer mal im Zauberberg essen möchte, der kann das im Münchner Restaurant Zauberberg. Ich bin da manchmal… 😉 Und sonst gilt natürlich: Lest den Zauberberg. In allen gut sortierten Buchläden. Und wo es die nicht mehr gibt: Bei buch7.de, dem sozialen Buchversender.

Illustrationen © Michael Kausch

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„Die schönste Bergklinik der Literatur seit dem Zauberberg“. Na, Eckhart Nickel, so weit will ich dann doch nicht gehen. Dazu lieb ich meinen Thomas Mann denn doch zu sehr. Und Clawdia Chauchat natürlich. Da hilft es auch nicht, dass dieser Roman von den Kritikern hochgejubelt wurde und wird und dass es sein Erzähler mit seinem Erstlingswerk „Die Geschichte eines einfachen Mannes“ schon mal auf die Shortlist des aspekte-Literaturpreises geschafft hat. Der Plot ist ja ganz nett, aber die Erzählung ist mir dann doch zu holprig.

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2 Antworten

  1. An dieser Stelle werden wir nicht zusammenkommen. Thomas Mann mag der größte Schriftsteller seiner Zeit gewesen sein, vielleicht auch des Jahrhunderts. Aber auch einer, den zu lesen ich nicht schaffe. Und ich will das auch gar nicht.
    So sehr wir im Kanon der Literatur Übereinstimmungen finden können: Hier nicht. Muss aber auch nicht sein

  2. Lieber Lutz, nein, man MUSS Thomas Mann nicht lesen. Man DARF ihn lesen. Bei mir ist das eh recht seltsam: Eigentlich sollte ich seinen Bruder Heinrich mögen. Der ist mir weltanschaulich viel näher. Aber mit Heinrich habe ich immer meine liebe Mühe. Ich habe einfach keine LUST auf Heinrich. Ich liebe die Sprache von Thomas, das abwägende, das langsame, das erzählerische, das abschweifende. Das ist wohl auch der Grund, warum Yaşar Kemal einer meiner drei mir liebsten Schriftsteller ist. Ich mag die großen langsamen Geschichtenerzähler, die Troubadure der Literatur, die feinen Beobachter des Menschenzoos. Thomas Mann gehört dazu. Thomas Mann ist nicht schwer zu lesen, er ist langsam zu lesen.

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