Im Internet kann jeder seine Meinung sagen. Manche sollten es besser sein lassen.

Mein Schlüsselerlebnis fand jetzt in Agra statt, der Stadt des an ästhetischem Anmut nicht zu überbietenden Grabmals Taj Mahal, aber auch einem Grad an Dreck und Verkehrschaos, wie er selbst in Indien selten erreicht und niemals übertroffen wird. Er entzündete sich an unserem Wunsch, zum Abendessen ein anderes als das etwas dröge Hotelrestaurant aufsuchen zu wollen, wozu ich mich, wie es inzwischen meine Gewohnheit ist, bei Google auf die Suche machte. Ich fand auch relativ schnell bei „tripadvisor.com“ eine Liste von Restauranttipps, die alle von ein und derselben offenbar jungen Dame stammten, die Agra wohl ziemlich intensiv bereist hatte und ihre Erfahrungen nun anderen als Orientierungshilfe anbot.


Vielleicht sollte ich voran setzen, dass ich ein leidenschaftlicher Fan von „echtem“  indischen Essen bin. Wir haben gestern Abend in Jaipur in einem vegetarischen Restaurant, dem „Four Seasons“, die köstlichsten Dal-Currys und andere Thalis verspeist und bei jedem Bissen genossen, wie die Sonne immer wieder in den prachtvollsten Farben im Mund aufzugehen scheint.

Diese junge Dame empfahl fünf oder sechs Lokale, wobei ich eigentlich bereits bei der ständigen Wiederholung des Wortes „multi-cuisine“ hätte hellhörig werden sollen. Dann hätte ich mir die Lektüre des letzten „Tipps“ vielleicht sparen können. Ihr „absolutes Lieblingslokal“ in Agra, so schrieb die dreiste Food-Kritikerin, sei nämlich der Pizza Hut, und zwar deshalb, „weil ich indisches Essen überhaupt nicht mag.“

Es drängen sich an dieser Stelle eine ganze Reihe von Fragen auf. Zum Beispiel: Warum fährst du dann ausgerechnet nach Indien, due dämliche Ziege? Die sehr viel bedeutendere Frage ist: Warum mutest du uns deine Meinung zu?

Im Zeitalter des „Mitmach-Internet“ ist viel von der Demokratisierung der Medien die rede, von der neuen Vielfalt der Meinungsäußerung. Und natürlich finden das alle gut. Ich bin mir mittlerweile – siehe oben – nicht mehr ganz so sicher.

Damit sitze ich allerdings in einem Paradoxon fest, auf den der Epimenides, der alte Kreter, stolz gewesen wäre. Einerseits ist gerade für mich als liberal denkender Amerikaner die Meinungsfreiheit oberstes kulturelles Gut. Oder, wie Voltaire es sinngemäß sagte: „Ich verabscheue das, was Sie sagen, aber ich würde mein Leben geben um Ihr Recht zu verteidigen, es zu sagen.“

Andererseits finde ich es bodenlos, wenn jemand die Meinungsfreiheit, die das Internet uns beschert hat, dazu verwendet, um völlig irrelevantes Geseiere abzusondern.

Wo genau die Grenzen der Meinungsfreiheit zu ziehen sind, hat Generationen von Staatsrechtlern beschäftigt, und eine Einigung ist nicht in Sicht. Am ehesten sind sich die Experten wohl einig, dass sie dort erreicht ist, wo sie die Grundrechte anderer empfindlich stört, ihn also nachweisbar in seiner Menschenwürde oder seinem Besitzstand schädigt. Der Unterschied ist nur, dass diese Frage bislang relativ selten im Zusammenhang mit irgendwelchen Grundsatzurteilen in der Praxis von Bedeutung war.

Wenn das Internet zu einer massenweisen Ausbreitung der Meinungsäußerung führt, dann wird zwangsläufig auch die Zahl der Störfälle steigen. Wer gibt mir meine zehn Minuten wieder, die diese Frau mir von meiner kostenbaren Reisezeit gestohlen hat? Was sind 600 Sekunden Indien wert? Und wo soll ich sie denn einklagen?

Vielleicht bei Google! Die haben mir das Ganze schließlich eingebrockt. Was die interessante Ideenfolge erlaubt, ob Suchmaschinen eines Tages für die Qualität ihre Treffer haftbar gemacht werden können. Immerhin wollen sich die Betreiber ja zunehmend durch die Relevanz der Ergebnisse profilieren. Microsoft hat zum Beispiel angekündigt, den Generalisten Google durch Spezial-Suchmaschinen, etwa für Online-Shopper, Paroli bieten zu wollen und hat dafür viel Geld in den Kauf von ciao.com investiert.

Quaere:  Wenn ich aufgrund einer solchen Empfehlung einen Fehlkauf lande – kann ich Microsoft womöglich in Zukunft auf Schadensersatz verklagen können?

Das ist zugegeben ein weiter Gedankensprung von einer Restaurantsuche in Agra, aber nach Agra ist ja ohnehin ein ziemlich weiter Weg…

2 Antworten

  1. das ist das tolle am internet: jeder kann mitmachen.und das ist das problem am internet: jeder macht mit!
    genau darin liegt die business opportunity für menschen wie dich und mich: die internetgesellschaft braucht orientierung. und die können leute geben, die sich professionel mit dem medium beschäftigen.

    das heisst nun natürlich nicht, dass man unbedingt DICH fragen sollte, wenn man einen ordentlichen single malt sucht (hah!). aber publizisten, journalisten blogger, pr-leute und andere kommunikationsmenschen sind gefordert strukturen zu entwickeln, die das grosse wort VERTRAUEN in das internet einbetten. das schlagwort, das ab heute um die welt geht heist: „embedded viral confidence“.

    die personale kommunikation wird als grundlage des viralen empfehlungsmarketings eine neue blüte erleben. ich muss menschen kennen, deren tipps ich vertrauen kann. dabei kommt es dann zur xing-architektur des vertrauens: wenn ich dir nicht trauen kann bei der auswahl schottischer hochlandgetränke, dann traue ich dir aber immer, wenn du eine web site kennst, deren empfehlungen man vertrauen kann. und über die berühmten drei ecken wird man immer jemanden finden, der einen 68er caperdonich (was für ein jahrgang; steht gerade bei mir auf dem regal) von einem amrut unterscheiden kann.

    du kennst amrut nicht? dann lass dich aufklären:
    „Die indische Mythologie berichtet von Göttern und Dämonen, die in der Vorzeit den Ozean mit Hilfe der Berge durchmischten. Auf einmal sprang ein goldener Topf aus dem Wasser, der das Elexier des Lebens enthielt. Diesen nannten sie Amrut.
    Der moderne Amrut hat seine Wurzeln unmittelbar nach Ende der englischen Kolonialherrschaft 1948, als die Inder begannen, ihren eigenen Whisky zu brennen.“
    (http://www.whisky24.de/tws/product_info.php?info=p13941_Amrut-Cask-Strength–Indien-.html)

    einen amrut gibt es jetzt auch in fassstärke. er schmeckt ein wenig nach fränkischen christkindlsmarktglühwein. wahrscheinlich bauen sie ihn in alten cardamonvorratsfässern aus. was eigentlich einen eintrag in knol (http://knol.google.com/k/knol) wert wäre.

    womit wir das stöckchen wieder zum ausgangspunkt geworfen hätten. denn die süddeutsche zeitung greift in ihrer heutigen ausgabe googles wiki-alternative heftig an: die artikel in knol seien häufig fehlerhaft, die autoren betrieben versteckte produktwerbung, und überhaupt werde unglaublich viel ohne quellenbeleg abgeschrieben. wenn man der süddeutschen glauben darf (ich tus in der regel; alles eine frage des vertrauens), dann verfügt wiki im vergleich zu knol fast über einen dem duden vergleichbaren vertrauensnimbus.

    ich warte auf seiten, die – wie ciao in der anfangsphase – nichts weiter tun, als empfehlungen und erfahrungen zu kommunizieren. und auf denen die empfehler dann selbst wieder empfehlungen erhalten und ein xing-ähnliches empfehlungsnetzwerk bilden. „embedded viral confidence“ als business-idee. will eben mal jemand einen businessplan schreiben ???

    oder gibts das schon? kann mir hier jemand einen link empfehlen?

  2. Da brauchte man nicht erst auf das Internet zu warten, um schlechte Empfehlungen zu bekommen. Haben wir nicht alle Freunde und Bekannte, deren Empfehlungen wir leidenschaftlich NICHT folgen. „Den Film musst du unbedingt sehen, das Buch muss man gelesen haben …“ Und wir wussten dann immer ganz genau was wir NICHT sehen und lesen wollen?

    Ich erinnere mich auch noch an viele Warnungen, die mich, in Kenntnis der Quelle, Gott sei Dank nicht abschreckt haben: „Zigarren stinken, Rocky ist ein blöder Film, Bukowski ist ein Schmierfink, das Internet wird sich nie durchsetzen …“

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