Für Tim

Die Überschrift stammt von ihm: Tim Cole, Publizist, Journalist, Blogger, Wanderprediger und Urgestein des Internets und vor allem emsiger Czyslansky-Freund und -autor schrieb unter diesem Titel einen geradezu visionären Artikel in seinem Blog. Veröffentlicht wurde dieser Artikel, so entnehme ich es Tims wunderbarer kleiner Textesammlung Hinter dem Bildschirm am 25.01.2012. Das war fast genau vor zwei Jahren.
Damals, so berichtete Tim Cole, der mir mit seinem Buch ein formidables Weihnachtsgeschenk (Sie merken, ich bin abhängig und beeinflussbar in meinen Texten) verabreicht hat, von einem Konzertbesuch im Münchner Gasteig.
…Ich musste gestern Abend daran denken, als wir im Gasteig saßen und den Münchner Philharmonikern lauschten, die sich vom unnachahmlichen, unverwüstlichen Georges Prêtre durch die aufwühlenden Anfangsakkorde von Beethovens „Eroica“ führen ließen. Die Dame neben mir war ganz woanders: Sie checkte immer noch auf ihrem iPhone ihre E-Mails. Okay, sie machte das lautlos, aber trotzdem war bei mir die Luft raus – Beethoven und die Philharmoniker werkelten weiter, aber ich konnte an nichts anderes denken als: Was, verdammt noch mal, ist in diesem Moment wichtiger als die Musik? shotUnd ja, eine Sekunde lang spürte auch ich Blutgier in mir aufsteigen: Jetzt das Handy nehmen und der Kuh damit so lange auf den Kopf hauen bis…
Nun hat Tim, obwohl amerikanischer Herkunft, genug europäische Sozialisation genossen, dass er seine Blutrauschphantasien nicht in die Tat umgesetzt hat. Andere sind da weniger zimperlich. Die Wirklichkeit hat seinen Text eingeholt.
Es ist kein Zufall, dass dies ausgerechnet in den USA passiert ist.
Dort nämlich wurde, wie Sie möglicherweise gelesen haben, ein 71jähriger ehemaliger Polizist von den Handygeräuschen eines anderen Kinobesuchers dermaßen in Rage gebracht, dass er ihn kurzerhand über den Haufen geschossen hat. Vorangegangen war ein heftiger Streit der beiden Männer. Zielführend war das Ganze für den Todesschützen natürlich nicht, denn dieser konnte im Nachgang mitnichten den Film ungestört zu Ende sehen, ein im Publikum anwesender Polizist nahm den Mann umgehend fest.
Im Wesentlichen entspricht der Tathergang in der Kleinstadt Wesley Chapel  dem, was Tim vor zwei Jahren skizziert hat.
In den Medien wird der örtliche Sherriff mit dem Kommentar zitiert, es sei absolut verrückt, dass es wegen einer solchen Sache einen derartigen Ausbruch von Gewalt geben könne.
Dass das Ganze ausgerechnet während einer Vorführung des Films „Lone Survivor“ mit Mark Wahlberg passierte, bestätigt wieder alle Klischees, die man hierzulande von den schießwütigen, waffenfanatischen Amerikanern hat. „Lone Survivor“ erzählt die blutige Geschichte einer amerikanischen Gruppe Elitesoldaten, die in Afghanistan auf geheimer Mission sind, einen Talibananführer aus dem Verkehr zu ziehen (Man, weiß, was das bedeutet). Das Unternehmen allerdings droht zu scheitern, als die Soldaten zu früh entdeckt werden. Es kommt zu wüsten Schießereien. Schon der Filmtitel verrät, wie das Ganze ausgehen wird.
Lone-Survivor-ss-18bWomit wir mal wieder in die Diskussion einsteigen könnten, ob Filme (wie auch Computerspiele), die Gewalt thematisieren, eine bestimmte Klientel anziehen und deren Hemmschwellen, selbst Gewalt auszuüben, gefährlich senkt. Es ist müßig zu spekulieren, ob es bei Filmen wie „P.S. – Ich liebe Dich“ oder einem Disney-Zeichentrick zu ähnlichen Vorfällen kommen kann.
Warum muss man überhaupt mit einer Waffe ins Kino rennen?
Beim Lesen dieser Meldung fällt mir Tim Beitrag aus dem Gasteig und seine visionäre Gabe wieder ein. Ich bin froh, dass wir in Europa leben, dass wir ziemlich sicher sein können, dass der Kinobesucher, der hinter einem sitzt, nicht plötzlich zur Pistole greift. Und ich bin froh, dass Tim Cole damals nicht im Münchner Gasteig um sich geprügelt sondern nur in seinem Blog „zugeschlagen“ und seine Aggression durch Schreiben abgebaut hat. Ich würde ihn so ungern in Stadelheim besuchen müssen. Außerdem bloggt es sich nicht so gut hinter Gittern.

(C) Szenenfoto Lone Survivor. Universal, 2014

5 Antworten

  1. LOL – der Unterschied zwischen uns und den Einwohnern Arizonas(*) ist, dass wir beide gerne schiessen würden, aber wir gottseidank nichts dabei haben, wenn es ernst wird.

    (*) Wieso Arizona: Dort darf man so ziemlich alles an Waffen mit sich rumschleppen, was man will, nur muss man die Waffen offen tragen. Das fand ich bemerkenswert, als ich 1992 dort war. Weiss nicht, ob das heute noch gilt. Das Kino war natürlich in Florida (vermutlich, es gibt noch ein Wesley Chapel in North Carolina).

  2. Das wäre doch eine tolle Idee für eine App: die virtuelle Pistole, mit der man seine Aggression rauslassen kann, ohne gleich in Stadelheim zu landen. Kannst du nicht sowas programmieren?

  3. Tim: Wir haben die virtuelle Pistole. Wer nervt, über den wird unfreundlich gebloggt. Das spart gelegentlich eine komplette Therapie zum Thema Aggressionsbewältigung, oder?

  4. Vielleicht könnte man sich darauf einigen, dass für die Mitnahme von Handys in Kinos und Konzertsälen ähnlich grosse Strafen, wie die für das Tragen von Waffen verhängt werden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.