Annemarie hat die Knautze bekommen!
Annemarie hat die Knautze gekriegt!

In Anhausen, einem kleinen Weiler auf der Schwäbischen Alb, in der ich das erste Maiwochenende mit meinen Freunden Fritz und Flaxi verbringen und drei Tage lang Dauerskat spielen durfte, kommen die Frauen jeden Montag im Backhaus zusammen und backen für ihre Familien das Brot. Wäre schön, wenn ich jetzt schreiben könnte, dass es sich um eine jahrhundertealte Tradition handelt, aber das wäre nicht ganz richtig. Das Backhaus wurde zwar schon vor 1900 mitten im Dorfkern erbaut, aber die beiden massiv gemauerten Öfen mit den schweren Eisentüren blieben jahrelang kalt, nachdem die letzte Dorfbäckerin gestorben war.

Dass sie wieder angefeuert werden, ist das Verdienst von Erika Schwegler, einer strammen, resoluten, aber auch etwas kurz geratene Dame, die heute die Teiglaibe mit einem zwei Meter langen spatenförmigen Schieber in die dunkle Höhle des Holzofen befördert. „Eigentlich bin ich zu klein dafür“, sagt sie, und in ihren Augen blitzt der schwäbische Schalk. Sie komme beim Putzen nicht bis in den hintersten Winkel, aber dafür sei ja zum Glück ihr Mann da. Gerhard Schwegler steht daneben mit einer langen Holzstange in der Hand, um deren Spitze ein nasser Putzlappen gewickelt ist, an dem noch der schwarze Ruß hängt.

„Klar konnten wir früher das Brot in der Bäckerei in Hayingen kaufen“, sagt Erika, „aber wer will das schon essen?“ Eigentlich sagt sie: „Wer will des scho essa?“, aber ich werde meinen geneigten Lesern im Weiteren die Gehirnakrobatik der Simultanübersetzung sparen. Schwaben können bekanntlich alles außer Hochdeutsch.

Erika Schwegler hat im Turnverein mit anderen Frauen aus dem Ort im Turnverein abgesprochen und ist dann zum Bürgermeister gegangen um zu fragen, ob sie nicht die alte Backstube reaktivieren könnten. Der war gleich sozusagen Feuer und Flamme für die Idee, denn er witterte gleich eine Touristenattraktion. Also wurde das Häuschen wieder hergerichtet und die verrostete Ofenanlage herausgeputzt. Ein „Schopf“ (Schuppen) gegenüber von der Backstube dient als Lager für die langen Buchenscheite sowie für den Reißig, den Gerhard Schwegler zum Anfeuern verwendet. Um sieben Uhr früh schließt er die Backstube auf und heizt an. Zwei Stunden lang brennt das Feuer zuerst lichterloh, dann als Glut, der den Innenraum des Ofens auf mehrere hundert Grad erhitzt. Wenn um neun Uhr die erste Frau aus dem Ort mit ihrem Leiterwagen voller Teigschüsseln erscheint, beginnt er, die Glut durch die Löcher im Ofenboden in den Aschekasten darunter zu rechen. Wenn der Ofen leer ist, wird er mit dem nassen Putzlappen ausgewischt. Im Ofen staut sich die Hitze in den dicken Backsteinwänden und kühlt ganz langsam ab. Ist er zu heiß, verkohlt das Brot. Ist er zu kalt, backen sie nicht ganz durch und bleiben innen feucht und klebrig. Wie er denn den richtigen Zeitpunkt ermittelt, um mit dem Backen zu beginnen? „Das halt man halt so im Gefühl“, sagt er mit typisch schwäbischem Understatement.

Der ungeduldige Teig wirft schon Blasen

Jede Frau hat ihr ganz eigenes Rezept, nach dem sie den Teig anrührt. Die größten Schüsseln fassen genügend Teig für ein halbes Dutzend runde Laibe. Die Arbeitsteilung ist gut einstudiert und funktioniert perfekt. Eine Frau fasst mit beiden Händen in die Schüssel und entnimmt zwei Handvoll Teig, die sie mit zwei, drei geschickten Handgriffen zu einer Kugel formt. Erika Schwegler hat inzwischen Mehl auf den Holzschieber gestreut. Darauf kommt der Teigklumpen. Eine dritte Frau klebt noch schnell einen kleinen Papierfetzen auf den Laib, auf dem der Name der Familie geschrieben steht, die den Teig gemacht hat. Erika Schwegler schiebt ihn in den Ofen, zieht dann den Schieber mit einer kurzen, kräftigen Bewegung raus, so dass der Laib im Ofeninneren verbleibt. Und schon wartet die Kollegin mit der nächsten Kugel. Zwischendurch wird ein kleineres Teigstück auf den Schieber gesetzt und mit dem Nudelholz plattwalzt. Das wird dann ein „Wes“, eine Art schwäbisches Fladenbrot, das entweder pur oder mit einer Masse aus Quark und Zwiebeln beschichtet wird. Woher das Wort „Wes“ kommt? Alle zucken mit den Schultern. „Das heißt halt so bei uns“, sagt jemand. Alle nicken.

Heute sind beide Öfen in Betrieb und füllen sich nach und nach, während sich ein herrlich warmer Duft im Backhaus ausbreitet. Manchmal, vor allem in der Urlaubszeit, muss nur ein Ofen angefeuert werden. Es kommt aber auch mal vor, dass zweimal am Tag gebacken wird, wenn zum Beispiel an Weihnachten die ganzen Familien da sind und die Kinder, von denen viele schon weggezogen sind, ein paar Laibe mit nach Hause nehmen wollen, damit sie ein paar Tage lang den Geschmack der Heimat in der Großstadt genießen können.

Erika Schwegler beim Brotbürsten

Nach zwei Stunden beginnt Erika Schwegler, die Laibe einzeln aus dem Ofen zu holen. Sie nimmt sie einzeln in die Hand, dreht sie um und brüstet die Unterseite ab, an der manchmal noch Aschereste kleben. Dann ergreift sie eine große Bürste, die in einem Wassertopf steckt, und wischt das frische Brot feucht ab. Das Wasser verdampft sofort. „Das gibt den Glanz“, sagt sie. Eine andere Frau nimmt ihr den Laib ab und legt ihn in die entsprechende Schüssel. „Wir wissen ganz genau, was zu wem gehört“, sagt sie.

Beim Backen dehnt sich der Teig aus, und manchmal quillt ein Teil davon an der Seite aus und ergibt eine unförmige Ausbuchtung, die so genannte „Knautze“. Manchmal fließen zwei solcher Wurmfortsätze ineinander, so dass zwei oder drei Laibe zu einem Stück verwachsen. Erikas Aufgabe ist es, sie mit einem langen Brotmesser möglichst gerecht zu verteilen, denn die Knautze ist begehrt. Manchmal kommt auch ein Dorfkind vorbei und bettelt so lange, bis es ein Stück heiße Knautze bekommt, das es beim Heimweg genüsslich aufisst. Eine gute Idee: Ich fange auch an zu betteln, und Erika erbarmt sich am Ende meiner, sagt dazu aber in strengem Ton: „Warte nur ein wenig!“ (Eigentlich sagt sie: „Wart nua a weng“, aber ich wollte ja das Dolmetschen sein lassen…) Wer heißes Brot isst, bekommt davon Bauchweh, behauptet sie. Ich beschließe, diese These zu testen. Mir bekommt der warme Bissen ganz hervorragend, und erst der Geschmack! So hat wohl früher mal Brot geschmeckt, aber früher, das ist lange her…

Nach und nach kommen die Dorffrauen vorbei und holen ihr Brot ab. Vorher wird noch abgewogen. Für jedes Kilo sind 50 Eurocent zu zahlen. Mit dem Geld wird der Unterhalt des Backhauses und das Brennholz bezahlt. Auch Erika Schwegler bekommt etwas, „aber mehr eine Anerkennung“, wie sie behauptet. Ihr Mann arbeite gratis pro deo, aber „der ist ja auch schon Rentner, der freut sich, wenn er was zum Tun hat“, sagt sie. Ihr Mann steht daneben und lächelt still.

Vor dem Backhaus wird noch ein wenig „geratscht“, dann zieht eine jede ihren Leiterwagen hinter sich her, auf dem sich die dunkelbraunen Brotlaibe in den Backschüsseln stapeln. Eine Woche lang wird es in Anhausen in jedem Haus wieder gutes Brot zu Essen geben.

Annemarie, die Nachbarin meines Freundes Fritz, bringt uns Skatspielern noch ein dampfendwarmes Wes, über das wir wie Schiffbrüchige heißhungernd herfallen. Wir unterhalten uns darüber, wie in einer kleinen Gemeinde solche Zusammenarbeit noch funktioniert, und wie dadurch auch eine Form von Gemeinsinn entsteht, auf die jeder im Dorf stolz verweisen kann. Annemarie ist nicht gerade in dem Alter, wo man als digitaler Eingeborene durchgehen kann, aber die Enkelkinder haben Computer, und sie hat auch schon mal was von Facebook gehört. Ob man vielleicht den Begriff des „Social Baking“ erfinden und solche Backtage online organisieren sollte, frage ich. Annemarie lächelt knitz: „Bei uns funktioniert das alles noch ganz ohne Internet“, sagt sie.

PS: Wenigstens kann man ein solches Gemeinschaftserlebnis online festhalten. Ich empfehle deshalb einen Besuch meiner Bildergallerie auf Pinterest, wo man die Backfrauen von Anhausen in voller Aktion erleben kann.

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