Vorsicht, "Schwimmring-Effekt"!
Achtung, „Schwimmring-Effekt“!

Die deutsche Wirtschaft steht vor einem tiefen Abgrund, und er kommt jeden Tag einen Schritt näher. Die Ursachen liegen etwas mehr als ein halbes Jahrhundert zurück, als die Deutschen nämlich kollektiv beschlossen haben, kaum noch Kinder in die Welt zu setzen.

Um sich ein Bild des Abgrunds vor Augen zu führen genügt ein Blick auf die so genannte Alterspyramide, die inzwischen längst kein spitz zulaufendes Dreieck mehr ist, sondern eher wie ein dickleibiger Fettkloß mit Schwimmring um die Hüfte aussieht. Das ist die Generation der so genannten „Babyboomer“: die Kinder des Wirtschaftswunders, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden und die sich jetzt geschlossen in den mehr oder weniger wohlverdienten Ruhestand verabschieden. Und nach ihnen kommt der Abgrund.

„Seit Jahrzehnten konstant niedrige Geburtenraten und eine immer weiter steigende Lebenserwartung haben die Altersstruktur der Bevölkerung nachhaltig verändert. Der Anteil der älteren gegenüber den jüngeren Menschen wächst beständig, gleichzeitig schrumpft Deutschland, weil es immer weniger Nachgeborene gibt.“ Das schrieb Hans Dietrich von Loeffelholz schon 2011 in einer Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“.

Es ist also nicht so, als ob wir es nicht gewusst hätten. Und dennoch gab es erstaunte Gesichter, als im Frühjahr 2015 der VW-Personalvorstand Horst Neumann auf einer Tagung des Bundesarbeitsministeriums in Berlin bekannt gab, dass sein Unternehmen in den nächsten zehn Jahren massiv in neue Robotertechnik investieren will – also genau in jene „Jobkiller“, gegen die Gewerkschaftler seit Jahren vergeblich warnen. Zur Begründung machte Neumann eine Rechnung auf: Durch den demografischen Wandel würden in den nächsten 15 Jahren rund 32.000 Beschäftigte mehr das Wolfsburger Unternehmen verlassen als im langjährigen Durchschnitt. Und Neumann sieht keine Chance, sie zu ersetzen.

Die Automobilindustrie mag ja besonders hart betroffen sein, aber in Wahrheit gibt es keine Branche, in der nicht längst der vielzitierte „War for talent“, der Krieg um die immer knapper werdenden Talente tobt. Laut einer Studie des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) vom Frühjahr 2015 werden in Deutschland bis 2029 zwischen 84.000 und 390.000 Ingenieure fehlen. Bereits im Jahr 2009 warnte das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) davor, dass in den nächsten Jahren 220.000 Stellen in den so genannten MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) unbesetzt bleiben könnten.

Es könnte sogar noch schlimmer sein, gäbe es nicht zwei aktuelle Trends, die dem entgegenlaufen:

Mehr Studenten: An den Hochschulen herrscht Hochkonjunktur, gerade in die technischen Fächer. So stieg die Zahl der Ingenieurabschlüsse zwischen 2008 und 2013 laut dem wirtschaftsnahen Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft um fast 50 Prozent auf 62.000 jährlich.

Mehr Zuwanderer: Immer mehr Menschen aus dem Ausland kommen nach Deutschland. Fast die Hälfte von ihnen kam mit einem Hochschulabschluss, viele in naturwissenschaftlichen oder technischen Disziplinen wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) festgestellt hat.

Ohne diese beiden „Lebensretter“ hinge die deutsche Wirtschaft längst am Tropf. Dass es laut Statistischem Bundesamt 2015 trotzdem noch 6,8 Millionen Arbeitslose gab, hängt eher damit zusammen, dass viel Deutsche den falschen oder gar kein Beruf gelernt haben. Statt mehr Friseure braucht das Land mehr Forscher, also höher- bis hochqualifizierte Fachleute in den Schlüsselbranchen.

Wer dagegen sich als junger Mensch die Mühe macht, in die eigene Qualifikation zu investieren, der steht heute vor einer Situation, die in der Geschichte wohl einmalig ist: Statt Arbeit zu suchen wird er gesucht – und wie! „Bewerber haben heute viel mehr Macht“, behauptet der Chef des Business-Netzwerks Xing, Thomas Vollmoeller, in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Sie sind heute immer häufiger in einer Position, in der sie ihren Arbeitgeber aussuchen können. Das bietet viele Chancen!“

Gleichzeitig differenziere sich die Arbeitswelt immer stärker aus. Einerseits gebe es weiterhin Menschen, die gezielt den klassischen Karriereweg beschreiten und lieber von neun bis fünf im Büro sitzen. Andererseits wächst die Zahl derjenigen, die aus einer wachsenden Anzahl von alternativen Modellen wählen wollen, vom Freiberuflertum über serielle Festanstellung (neudeutsch: „Job Hopping“) bis zu den verschiedensten Teilzeitmodellen.

Digitale Netzwerke treiben diese Entwicklung massiv an. Zum einen ist es in einer Welt des allgegenwärtigen Internet im Prinzip egal, wann und wo jemand seiner Arbeit nachgeht. Und zu anderen sorgt die Digitalisierung für ein ungekanntes Maß an Transparenz und Offenheit im Arbeitsmarkt.

Unter dem Druck des Digitalen gibt der Konsens zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer langsam nach: Statt wie früher mit einer lebenslangen Arbeitsplatzgarantie Menschen physisch und mental an die Firma zu binden, muss sich der Arbeitgeber heftig anstrengen, um den Mitarbeiter wenigstens eine Weile bei sich halten zu können. Die vertikale Loyalität zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer hat sich in den vergangenen Jahren de facto aufgelöst und ist ersetzt worden von dem, was Thomas Vollmoeller „horizontale Loyalität“ nennt, also das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Arbeitnehmern, die sich inzwischen zu Netzwerken zusammengeschlossen haben.

So diskutieren gerade junge Menschen in den Sozialen Medien, auf Facebook oder WhatsApp, sowie in den beruflichen Netzwerken wie eben Xing oder LinkedIn, stundenlang über ihre Arbeitgeber, geben sich gegenseitig Tips oder rekrutieren Freunde als künftige Kollegen, ohne dass der Arbeitgeber an diesem Prozess beteiligt sein muss oder überhaupt davon weiß. Statt in der Zeitung zu suchen treffen sich Bewerber heute bevorzugt online in so genannten Jobbörsen wie Gigajobs oder Monster, wo sie eigene Profile erstellen und über die Stellenangebote von Firmen diskutieren.

Unter den vielen Jobbörsen, die sich in Laufe der vergangenen zehn bis 15 Jahren bei uns etabliert haben, gibt es große Unterschiede, je nach Zielgruppe oder Schwerpunkt.

Generische Jobbörsen decken alle Branchen und Berufszweige ab. Sie sind in der Regel auch überregional aufgestellt. Sie erlauben es dem Jobsuchenden, die Suchergebnisse für ihren eigenen Bedarf zu selektieren und werden meist nur von dem Unternehmen per Provision bezahlt, das Mitarbeiter sucht.

Meta-Jobbörsen halten selbst keine Stellen- oder Suchanzeigen vor, sondern durchsuchen lediglich im Auftrag des Jobsuchenden andere, generische oder fachspezifische Jobbörsen entsprechend seinen Profilangaben und stellen die Ergebnisse gelistet dar oder vermitteln den Kontakt.

Spezial-Jobbörsen sind auf eine bestimmte Branchen (agrarjobbörse.de), Region (fachkraefte-erzgebirge.de) oder Zielgruppen (ausbildungsoffensive-bayern.de). Andere wie compamnize.com verstehen sich als Netzwerk für Arbeitnehmer, wo diese zum Beispiel ihr aktuelles Gehalt mit denen ihrer Kollegen vergleichen und Arbeitgeber bewerten können. Gute und/oder faire Arbeitgeber erscheinen in einer Liste von „Top-Firmen“.

Micro-Jobbörsen sind eine relativ neue Erscheinung im Markt und sind auf Nebenberufe oder Kleinsttätigkeiten – so genannte „gigs“ – spezialisiert. Vor allem Freiberufler, Kreative und Menschen, die es vorziehen, keiner geregelten Arbeit nachzugehen, können hier Aufträge „kaufen“: Beim äußerst erfolgreichen amerikanischen Micro-Jobportal fivverr.com kostet ein Gig, wie der Name impliziert, pauschal fünf Dollar. Dort kann man sich ein Werbe-Jingle komponieren, eine Headline texten, ein Gedicht schreiben oder ein Cartoon von einer Fotovorlage zeichnen lassen. Tausende von vorwiegend junge Menschen verdienen sich so das Studium oder bessern ihr Taschengeld (oder ihr Gehalt) auf diese Weise auf.

Der Arbeitgeber als Marke

Das Ergebnis ist ein Rollentausch zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer: Statt zurücksitzen und warten zu können, bis sich jemand auf eine Stellenzeige meldet, sind Unternehmen heute gefordert, sich möglichst gut in Szene zu setzen, damit sie bei den potenziellen Bewerbern überhaupt in die engere Wahl kommen. Diese Form der Selbstinszenierung per Internet oder Social Web wird als „Employer Branding“ bezeichnet. Ziel ist es, eine „Arbeitgebermarke“ zu etablieren, genau wie man es mit der Produktmarke macht. Die Methoden und Mittel sind auch die gleichen wie im klassischen Marketing.

Das Problem ist nur: Die Arbeitgebermarke muss auch gelebt werden! Wer sich per Facebook oder Twitter ein rosarotes Bild als Arbeitgeber zurechtmalt, muss sich später auch daran messen lassen. Schließlich lesen auch die eigenen Mitarbeiter das, was dort behauptet wird, und es steht ihnen jederzeit frei, ihre Sicht der Dinge in Form von oft bissigen Kommentaren, notfalls anonym, zu hinterlassen, um damit andere zu warnen: „Bewerbt Euch hier bloß nicht! Schlimm genug, dass ich hier arbeiten muss…“.

Große Unternehmen in Deutschland haben in den letzten Jahren teilweise viel Geld ins Arbeitgebermarketing gesteckt, etwa die Lufthansa, die einen eigenen Webauftritt unter dem Namen „Be-Lufthansa“ aufgesetzt hat, oder Continental, die Bewerber mit der provokanten Frage abholt: „Are you automotivated?“

Der Schokoriegel-Hersteller Mars fährt seit einiger Zeit eine aufwändige Online-Kampagne unter dem Motto: „Where freedom works“. Potenzielle Bewerber mit Freiheitsdrang spricht Mars mit einem Bild der Weltkugel und der Behauptung an: „Freedom takes courage. We take the courageous“. Der Mutmacher-Auftritt steht zwar im Mittelpunkt der Personalwerbung, wird aber auch bei klassischen Stellenausschreibungen, Image-Anzeigen, Bewerberbroschüren sowie Auftritte bei Job-Messen aufgegriffen und fortgeführt.

Die Markenwerbung des Arbeitgebers wirkt natürlich nach außen wie nach innen und geht in ihrer Wirkung weit über die eigentliche Anwerbung neuer Arbeitskräfte hinaus. So haben Studien in den USA und Großbritannien einen Zusammenhang zwischen erfolgreichen Kampagnen zum Aufbau von Arbeitgebermarken und beispielsweise die erhöhte Identifikation der vorhandenen Mitarbeiter mit ihrer Firma und ihren Produkten sowie die Leistungsbereitschaft und sogar eine Senkung von Krankenstand und Bürodiebstahl festgestellt. Neben dem Recruiting neuer Mitarbeiter ist die Arbeitgebermarke offenbar auch ein wirksames Mittel zur Mitarbeiterbindung („Retention“) sowie zur Verbesserung der Unternehmenskultur. Vorausgesetzt, natürlich, sie ist echt – sonst ist sie eigentlich nur peinlich!

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