Michael KauschIm ersten Teil dieser kleinen Artikel-Serie ging es um die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit, im zweiten Teil um das Leben als Kunde. Heute soll es um die geänderten Rahmenbedingungen für das politische Handeln gehen.

Kai-Hinrich und Tim Renner haben in ihrem Buch „Digital ist besser“ wunderbar den aufkommenden Prosumer beschrieben, der als Konsument und gleichzeitig Produzent von user-generated Content nicht nur die beiden Sphären der bürgerlichen Gesellschaft – hier die Produktion, dort die Konsumtion – symbiotisch in einer Person vereint.

Damit einher geht auch die weitgehende Granularisierung der Informationen. Rezipiert wird immer seltener ein ganzes Buch oder wenigstens eine Zeitung, sondern ein einzelner Artikel. Nicht mehr die acht Lieder einer Schallplatte werden gekauft, sondern ein einzelner Song wird im Download erworben. Diese Granularisierung ist die Voraussetzung für das kreative Covern von Werken, das längst an die Stelle des Abkupferns getreten ist. Einzelne Stücke werden isoliert von ihrer Historie und der in dieser verwobenen Intentionen eines Autors interpretiert.

Im Zusammenfallen von Produktion und Konsum entsteht der Prosumer

Und so handelt es sich bei der Entwicklung des Prosumers eben nicht nur um die Verschmelzung beider Elemente in eine Person, sondern auch noch um deren Integration in einen einheitlichen Akt! Im vernetzten Arbeiten lassen sich die Prozesse von Nutzung und Verformung der Dinge gar nicht mehr logisch unterscheiden. Je einfacher zugänglich Informationen sind, je besser diese mit anderen Informationen vernetzt sind, desto weniger ist eine beliebige Informationseinheit stofflich isolierbar. „Guttenbergen“ wird zur vorherrschenden Form geistiger Produktion – wobei man allerdings als Autor dann auch den Anspruch auf individuelle geistige Originalität aufgeben muss. Entscheidend bleibt einzig und allein die – vermutlich zeitlich, räumlich oder situativ begrenzte – Relevanz des neuen Werkes.

Ohne Urheber, keine Urheberrechte

Entsprechend verhält es sich auch mit dem individuellen „Recht am Werk“.

Ich bin davon überzeugt, dass es beim legitimen Kampf um die Urheberrechtsinteressen von Autoren heute nicht mehr um die Rettung des Urheberrechts gehen kann, sondern nur noch um die Sicherstellung geordneter Übergangsfristen in eine Gesellschaft, die auf Copyright letztlich verzichten wird.

Die Open Source Community hat gezeigt, dass Alternativen zum herkömmlichen Lizenzwesen und zur Urheberrechtsabgabe unter bestimmten Voraussetzungen realisierbar sind. Diese Alternativen reichen von einer Werbefinanzierung von Software, über Abgaben im Shareware-Modell bis hin zu kostenlosen Nutzungsrechten bei Verbot einer Kommerzialisierung im herkömmlichen Vermarktungsmodell.

Die Entpropriierung der Propriateure durch die Crowd

Alle diese Modelle erlauben einen Übergang zur Crowd Intelligence und zu gemeinschaftlichen Produktionskonzepten, gefährden aber traditionelle Berufsgruppen immer dann, wenn die Crowd zu Resultaten führt, die als Äquivalente klassisch produzierter und zu bezahlender Waren gelten können.
Dabei werden Berufsgruppen wie Journalisten und Photographen gar nicht so sehr durch einzelne Blogger oder schreibende und photographierende Amateure verdrängt, sondern von anonymen Crowds. In gleichem Maße, in dem Artikel von Diskussionssträngen, einzelne Texte von Kommentarlisten verdrängt werden, setzt sich die Wissensproduktion als Manifestation von Crowd Intelligence durch. Wer wissen will, welche Themen und Thesen gerade durch die Köpfe der Meinungsmacher gejagt werden, der analysiert Tweets und Blogs mittels moderner Monitoring-Werkzeuge.

Twitter ist ein sehr gutes Beispiel für eine Kommunikation, deren Wert nicht mehr von Individuen, von einzelnen Twitterati definiert wird. Twitter taugt ja nicht nur als Nachrichtenmedium mit hoher Aktualität und gleichzeitig hoher Resistenz gegen Zensurversuche – letzteres ist vor allen Dingen in autoritär verfassten Gesellschaften von unschätzbarem Wert – , sondern auch zur Analyse der Daily Agenda. So habe ich mir einige private Twitter-Listen erstellt, auf denen jeweils nicht mehr als 20 bis 50 für mich wichtige Personen stehen. Diese Listen enthalten Personen, denen ich zum Thema der Liste eine gewisse Kompetenz zuschreibe. Mein Ziel ist es nun nicht, alle Tweets dieser Menschen zu lesen und zu kennen. Aber immer wenn ich ein wenig Zeit habe, sehe ich mir mal kursorisch die Timeline einer solchen Liste an – und schon weiß ich, welche Themen derzeit im Zeitgespräch sind.

Der Tweet ist wichtig, nicht der Twitterati

Das ist ein wenig wie ein Gang durch die Kaffepause eines Kongresses. Man schnappt mal hier mal dort einige Gedankenfetzen auf und lässt sich überraschen. Im Internet sucht man ja zumeist gezielt nach Informationen, die Störung und Überraschung fehlt. Das ist ein wenig wie im offiziellen Vortragsteil einer Konferenz, in dem ich ja weiß, wem ich zuhören möchte. In den Kaffeepausen erlebt man hingegen die viel größeren Überraschungen. Meine Listen bilden die Themen der Konferenz, die Timeline die Kaffeepausen-Diskussion. Im Gegensatz zu einer wirklichen Konferenz kann ich mir aber in Twitter die Gäste der Konferenz jederzeit aussuchen. Twitter und Kaffeepausen können als Messinstrumente für Meinungen und Analyse-Werkzeug für die aktuelle Agenda so manchen guten Zeitungskommentar – und also Journalisten – ersetzen. Dabei spielt nicht ein einzelner Artikel oder eine einzelne Äußerung die zentrale Rolle, sondern die Dynamik des Gesprächs im Netz, das aktuelle Zeitgespräch. Wer aber hält das Copyright am Zeitgespräch?

Noch einmal zur Klarstellung: da wo heute Autoren, Programmierer und sonstige geistig Schaffende auf die Vermarktung ihres Copyrights beharren, muss dieses Recht durchgesetzt werden. Ich fordere nicht die Akzeptanz der wilden Raubkopiererei und Fälscherei. Aber wir müssen uns damit abfinden, dass sich die Mechanismen geistiger Produktion derzeit radikal verändern, und dass unser heutiges Urheberrecht diesen Veränderungen in keiner Weise gerecht wird. Fortschritt entsteht immer seltener aus individuellen Erkenntnissen. In zwanzig Jahren werden die letzten Nobelpreise an Einzelpersonen verliehen, vermutlich an Larry Page und Mark Zuckerberg für ihr Lebenswerk. Bill Gates wird die Laudatio halten.

Angekündigt hat sich dieser Prozess bereits vor hundert Jahren. Walter Benjamin definierte schon 1926 das System des Hypertextes in seinem Modell des Zettelkastens:

„Heute schon ist das Buch, wie die aktuelle wissenschaftliche Produktionsweise lehrt, eine veraltete Vermittlung zwischen zwei verschiedenen Kartotheksystemen. Denn alles Wesentliche findet sich im Zettelkasten des Forschers, der’s verfasste, und der Gelehrte, der darin studiert, assimiliert es seiner eigenen Kartothek.“

Benjamins Kartothek war der Vorläufer des Z1, seine Arbeitsweise die Vorahnung des Bloggers.

Künftiger Fortschritt entsteht situativ in viralen Netzwerken.

Produktentwicklungen werden immer häufiger nicht nur von Prosumenten angestoßen, sondern auch von ihnen realisiert. Kurz: wir werden uns Schritt für Schritt vom Urheberrecht als einer Säule unserer ökonomischen und gesellschaftlichen Verfasstheit verabschieden müssen.

Wo es kein Urheberrecht gibt, gibt es auch keine Privaheit

Ebenso ergeht es der Privatheit. Die ganze Aufregung über Wikileaks ist nichts weiter als das letzte Aufbäumen einer weit verbreiteten Doppelmoral. Nichts was Wikileaks über unsere Politiker veröffentlicht hat, vermag einen halbwegs aufgeklärten Zeitgenossen in Erstaunen zu versetzen. Wir wissen um die Profilneurosen unseres ehemaligen Außenministers, die eher begrenzten visionären weltpolitischen Anwandlungen unserer Kanzlerin, die Weinseligkeit unseres früheren Wirtschaftsministers. Erstaunlich ist nicht, dass auch amerikanische Politikexperten zu derartigen Einschätzungen gelangen, erstaunlich ist nur, dass dies öffentlich zu lesen ist.

Jene besorgten Familienväter, die ihre Privatsphäre durch Google Streetview gefährdet sehen, wissen zumeist erstaunlich gut über die Gartengestaltung ihres Nachbarn Bescheid. Was soll die Warnung vor despektierlichen Fotos von Schüler-Partys, wenn ein gelegentlicher Joint einen selbst für den Beruf des US-Präsidenten nicht disqualifiziert. Wer bitte hat jemals inhaliert?

Wikileaks entlarvt lediglich die Doppelmoral, von der wir doch alle längst wissen, dass sie existiert. Freilich wird die Auslöschung der Doppelmoral die Arbeitsweise der Diplomaten verändern: Diplomatie, die seit dem 19. Jahrhundert in einem Arkanbereich von einer Priester-Kaste unter Ausschluss der Öffentlichkeit betrieben wurde, wird nachhaltig ans Licht der Öffentlichkeit gezogen. Ob dies zu einer Remoralisierung von Diplomatie oder einer Verallgemeinerung des Sachzwangdenkens führen wird, wage ich heute nicht zu entscheiden. Wie immer sind beide Entwicklungsperspektiven der neuen Technologie – ich rede noch immer vom Internet – einbeschrieben: eine emanzipative ebenso, wie eine reaktionäre.

Die vom Internet hergestellte Öffentlichkeit beschreibt eine Vergesellschaftlichung auf allen Ebenen: die Diplomatie wird ebenso zum Gegenstand des gesellschaftlichen Diskurses, wie jede Form der Privatheit. Wissen wird ebenso vergesellschaftlicht, wie Kreativität und letztlich Machtausübung. Damit geht aber nicht zwangsläufig eine Demokratisierung einher. Die Vergesellschaftlichung der Erkenntnis lehrt nur, dass der Sozialismus der Erkenntnis ein Sozialismus ohne Gleichheit ist. Mit dem Internet mag die bürgerliche Gesellschaft so wie wir sie bislang kannten und definierten enden, nicht aber endet ihre Not.

Statt eines Resumées

Dieser Text entstand bei der Vorbereitung eines Vortrags über die Auswirkungen der Digitalisierung auf unsere politischen Parteien. Aber ich habe hier nicht meine Erwartungshaltung an unsere politischen Parteien vorgestellt. Ich habe auch kein Resumée. Ich wäre schon froh, wenn sich der gesellschaftliche Diskurs zur digitalen Gesellschaft in und außerhalb der Parteien heute nicht in schlichten Schwarz-Weiß-Malereien erschöpfen würde. Es genügt nicht darüber zu streiten, was an der Digitalisierung wir wollen und was nicht. Wer glaubt, er könne durch Diskussion alleine irgendwelche Weichen stellen, verkennt das Tempo des Zuges.

Die Digitalisierung kommt. Und zwar schon seit 30 Jahren. Und mir ihr kommen viele Veränderungen, die wir politisch nicht aufhalten werden:

Wir werden diese Technologien und die hier geschilderten Folgen nicht verhindern. Aber wir können dafür sorgen, dass Deutschland im internationalen Wettbewerb auch die guten und starken Positionen besetzen kann. Das ist die Aufgabe der Technologiepolitik. Vor allem aber können und müssen wir für eine Wirtschafts- und Sozialpolitik sorgen, die die Marginalisierung von schlecht Ausgebildeten, von Alten, von Behinderten, von „Nicht-Integrierbaren oder -willigen“ verhindert. Mir wäre lieber, die Parteien würde sich weniger um die Arbeitsbedingungen der digitalen Beduinen sorgen und mehr um die, die durch diese Digitalisierung keine neuen Arbeitsplätze finden werden.

Wir sollten uns aus dem Hirn schlagen, dass wir die Technologoieentwicklung entscheidend steuern können. Aber wir können ihre Konsequenzen gestalten. Das erwarte ich von unseren Parteien.

Nachsatz: Es sollte gestattet sein im Anschluss an dieser drei kleinen Texte auf ein sehr gutes Buch zum Thema eines Czyslansky-Co-Autors und Freundes zu verweisen: Tim Cole hat vor einiger Zeit gemeinsam mit dem leider jüngst verstorbenem Ossi Urchs ein wunderbares Buch geschrieben, das ich jedem, der sich weiter mit diesem Thema auseinandersetzen will oder muss, ans Herz oder unters Kopfkissen legen möchte: Digitale Aufklärung, erscheinen bei Hanser. Lesen! 

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